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Zusammenfassung

Ein Mann wird zu 140 Tagessätzen à 15 € für einen Diebstahl von Lebensmitteln im Wert von unter 5 € verurteilt. Als Bürgergeldempfänger entspricht dieser Tagessatz fast dem Gesamtbetrag, der ihm täglich zur Verfügung steht. Die Richterin hält die harte Strafe im Hinblick auf die Vorstrafen des Angeklagten für notwendig.

Kommentar

Dieser Fall zeigt geradezu exemplarisch, wie Armut kriminalisiert wird und wie Kriminalisierung gleichzeitig zu Armut führt bzw. sie verfestigt. Die Richterin verurteilt den Mann zu einer sehr hohen Geldstrafe, obwohl er als Bürgergeldempfänger am Existenzminimum lebt. Zudem ist er durch vorherige Geldstrafen bereits finanziell belastet. Die Richterin hinterfragt nicht, warum der Angeklagte eine solche Menge an „einschlägigen“ Vorstrafen hat und warum diese ihn nicht von weiteren Straftaten abgehalten haben.

Besonders die Einleitung in ihr Urteil ist hierbei bemerkenswert. So impliziert die Richterin zwar, dass sie sich durchaus in einem Zwiespalt befindet, der aus der Realität von Armut und der staatlichen Forderung nach Schutz von Privateigentum entsteht. Gleichzeitig macht sie jedoch den Angeklagten für diesen Zwiespalt verantwortlich („Sie machen es einem nicht leicht.“) und distanziert sich schon im nächsten Satz sprachlich („Was soll man machen?“) von ihrem eigenen Urteil.

Zusammen mit den vorherigen Geldstrafen wird der Mann mindestens 33 Monate brauchen, um alle seine Geldstrafen abzuzahlen. Denn das Gericht geht davon aus, dass er ein Drittel seiner monatlichen Sozialleistungen für Ratenzahlungen aufwenden kann. Praktisch verfügt er damit für fast drei Jahre noch weniger als ein sowieso schon knapp bemessenes „Existenzminimum“.

Bericht

Die Verhandlung findet als sogenanntes beschleunigtes Verfahren statt und dauert insgesamt nur fünf Minuten. Auch nach Verkündung des Urteils drängt die Richterin auf ein schnelles Durchführen der nächsten Verhandlung. Der Angeklagte hat keine anwaltliche Vertretung und gibt die Tat zu. Er guckt während der gesamten Verhandlung nach unten und macht nicht von seinem Recht Gebrauch, sich und seine Situation in einem Plädoyer zu erklären.

Er ist ein weißer Mann mittleren Alters mit deutscher Staatsangehörigkeit und hat ein erwachsenes Kind. Er bezieht Bürgergeld und ihm wird vorgeworfen, dass er in einem Supermarkt versucht habe, Lebensmittel im Wert von unter 5 € zu stehlen. Dies misslang und dem Supermarkt ist kein Schaden entstanden. Dennoch betont die Richterin, dass sich dieser Vorfall in eine Reihe anderer Diebstähle und „Beförderungserschleichungen“ in einem Zeitraum von fast 30 Jahren einreihe. Gegen den Angeklagten wurden bereits zwei Geldstrafen wegen Fahrens ohne Fahrschein verhängt, insgesamt in einer Höhe von über 2.000 €.

Die Staatsanwaltschaft räumt ein, dass es sich um einen geringwertigen Diebstahl handelt und auch das Geständnis der Tat für den Angeklagten spricht. Die Vorstrafen sprechen gegen ihn. Daraufhin fordert die Staatsanwaltschaft eine sehr hohe Strafe von 140 Tagessätzen à 15 €.

Die Richterin folgt dem Antrag der Staatsanwaltschaft und verurteilt den Mann zu einer Gesamtstrafe von 2.100 €. Die Begründung des Urteils beginnt die Richterin, indem sie die Eigenverantwortlichkeit des Mannes betont: „Sie machen es einem nicht leicht. Was soll man machen?“ Auch sie erwähnt den geringen Wert der Lebensmittel, betont jedoch vor allem die Vorstrafen des Mannes. Die hohe Anzahl an Tagessätzen rechtfertigt die Richterin damit, dass ihr angesichts der vorher verhängten Geldstrafen nichts übrig bliebe, als die diesmalige Strafe noch deutlicher zu verschärfen.

Fälle aus unserem Archiv

Fall 28

Eine Frau wurde per Strafbefehl zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die ihr gerichtlich zugeteilte Pflichtverteidigung legte dagegen Einspruch ein. Bei der Verhandlung ist weder die Verteidigung noch eine angemessene Dolmetschung anwesend. Da die Frau zum Tatzeitpunkt eine in Deutschland verbotene Waffe bei sich trug, drängt die Richterin sie dazu, den Einspruch zurückzunehmen, da sie aus ihrer Sicht bereits eine milde Strafe erhalten habe. Sie urteilt hart über sie, weil sie mit „den falschen Leuten“ zu tun habe, und fordert sie auf, ihrem Kind ein besseres Beispiel zu geben.

Messer-Panik
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 27

Ein Mann, der wegen versuchter Körperverletzung mit einer Waffe verurteilt wurde, legt Berufung gegen sein Urteil ein. Die Verhandlung erfolgt unmittelbar nach einer Welle populistischer Stimmungsmache aufgrund eines Messerangriffs. Während der Verhandlung herrscht ein feindseliges, im Zuge der Messerpanik aufgeheiztes, Klima: Die Verteidigung wird daran gehindert, Zeug*innen zu befragen, während die Richterin und die Staatsanwältin darauf erpicht sind, den Angeklagten in Untersuchungshaft zu behalten, was auch seine Abschiebung erleichtern würde. Obwohl das Berufungsverfahren mangelnde Beweise offenlegt, besteht das Gericht auf eine hohe Haftstrafe. Der Angeklagte wird nach der zweiten Anhörung und zwölf Monaten in Untersuchungshaft freigelassen, da er seine Strafe bereits verbüßt hat.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Haftstrafe
Körperverletzung

Fall 26

Ein junger Mann steht wegen Diebstahls vor Gericht. Während der Verhandlung erfährt er, dass seine Strafe hoch ausfallen wird, weil er ein Messer bei sich hatte, obwohl es laut Beweislage nicht während der Tat verwendet wurde. Die Richterin droht dem Angeklagten mit einer Haftstrafe. Ohne anwaltlichen Rat bleibt ihm offenbar wenig übrig, als die harte Strafe zu akzeptieren und sich die Unterstellungen der Richterin gefallen zu lassen, dass er gewerbsmäßig stiehlt – genau wie die nicht näher spezifizierten „anderen“, auf die sich die Richterin bezieht.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 25

Ohne eine anwesende angeklagte Person oder anwaltliche Vertretung erlässt das Gericht einen Strafbefehl, um eine Person per Post zu verurteilen. Die Staatsanwaltschaft drängt auf eine harte Strafe und darauf, den Tatbestand „Diebstahl mit Waffen“ beizubehalten, obwohl es wenige Beweise gibt und weder die angeklagte Person noch Zeug*innen befragt werden. Obwohl die Richterin mit der ursprünglichen Empfehlung der Staatsanwaltschaft für eine Haftstrafe nicht einverstanden ist, verhängt sie eine hohe Geldstrafe von mehr als 1.300 Euro für den Diebstahl von Lebensmitteln.

Messer-Panik
Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Diebstahl

Perspektiven