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Zusammenfassung

Ein junger Mann steht wegen Diebstahls vor Gericht. Während der Verhandlung erfährt er, dass seine Strafe hoch ausfallen wird, weil er ein Messer bei sich hatte, obwohl es laut Beweislage nicht während der Tat verwendet wurde. Die Richterin droht dem Angeklagten mit einer Haftstrafe. Ohne anwaltlichen Rat bleibt ihm offenbar wenig übrig, als die harte Strafe zu akzeptieren und sich die Unterstellungen der Richterin gefallen zu lassen, dass er gewerbsmäßig stiehlt – genau wie die nicht näher spezifizierten „anderen“, auf die sich die Richterin bezieht.

Kommentar

Dieser Fall zeigt, wie das Strafgericht sich als Vollstrecker des Migrationssystems versteht. Die Richterin hatte vor der Verhandlung Absprachen mit den Migrationsbehörden getroffen und scheint den Angeklagten in seinem Strafverfahren wegen vermeintlicher administrativer Probleme in Zusammenhang mit seinem Migrationsstatus härter zu bestrafen. Der Fall verdeutlicht auch, wie der Besitz eines Messers die Schwere der Strafe erhöht, selbst wenn aus den Beweisen hervorgeht, dass das Messer während der mutmaßlichen Tat nicht benutzt wurde. Gerichte nehmen an, dass Menschen, die Messer mit sich führen, gewalttätig sind und erkennen nicht an, dass für viele wohnungslose oder anderweitig marginalisierte Menschen Messer zur Selbstverteidigung oder als notwendiges Alltagswerkzeug dienen. Gerichte lassen sich von der moralischen Panik über „Messerkriminalität“ beeinflussen. In diesem Fall droht das Gericht mit einer Haftstrafe – eine Drohung, die beim Angeklagten spürbare Angst auslöst. Der Fall veranschaulicht die Gewalt, die dem Narrativ der „Ausländerkriminalität“ und seinen Ablegern innewohnt, und wie diese Narrative die Erfahrungen beeinflussen, die migrantisierte Menschen mit dem Strafsystem machen.

Bericht

Die Richterin beginnt den Fall mit der Bemerkung, dass ein Polizeieinsatz erforderlich war, um das Erscheinen des Angeklagten vor Gericht sicherzustellen, und suggeriert damit, der Angeklagte habe absichtlich versucht, die Zustellung seiner Ladung zu verhindern. Aus dem Gesprächsverlauf wird jedoch nicht deutlich, ob der Angeklagte sich überhaupt eines Problems mit seiner Anmeldung bewusst war. Die Richterin überreicht ihm einen Strafbefehl für einen weiteren Diebstahlsfall und erklärt, dass dieser rechtskräftig sei, obwohl der Angeklagte ihn vorher nicht erhalten hatte.

Nach dem Verlesen der Anklage im aktuellen Fall gibt der Angeklagte zu, Parfüm für seine Frau gestohlen zu haben. Das Gericht zeigt ihm ein Foto des Messers, das bei seiner Festnahme gefunden wurde. Der Mann erklärt, dass er es zu Hause in der Küche benutze und nicht wusste, dass er es während der Tat bei sich hatte. Die Richterin erklärt ihm, dass das Mitführen eines Messers während eines Diebstahls die Anklage auf Diebstahl mit Waffe erhöht. Sie fügt hinzu: „Ich schneide auch Obst und Fleisch zu Hause, aber es würde mir nicht einfallen, ein Messer mitzunehmen.“

Dann lenkt sie das Gespräch auf den Strafbefehl und fragt den Angeklagten: „Haben Sie sich jemals Gedanken darüber gemacht, wie Sie das bezahlen werden?“ Er bejaht das und fragt, ob er in Raten zahlen könne. Die Richterin lächelt und erklärt, dass es sich nun um Diebstahl mit einer Waffe handele und sie sehe keinen Grund für Strafmilderung.

Die Staatsanwältin argumentiert, der Angeklagte habe das Messer in vollem Wissen mit sich getragen und fordert daher eine lange Haftstrafe auf Bewährung. Die Richterin reduziert die beantragte Strafe um zwei Monate, folgt aber ansonsten der Einschätzung der Staatsanwältin, dass eine harte Strafe angemessen sei. Sie erklärt, dass es besser sei, die Strafe zur Bewährung auszusetzen, damit der Angeklagte arbeiten könne, was für seine Integration besser sei. Sie warnt ihn, dass er bei einer erneuten Verurteilung ins Gefängnis kommen werde und betont, dass sein Kind ihn nach der Haftzeit nicht wiedererkennen würde. Sie bezweifelt, dass das Parfüm wirklich für seine Frau war und unterstellt ihm, er habe versucht, damit Geld zu machen „so wie das die anderen auch machen“. Sie beendet die Verhandlung mit einer Reihe von Ermahnungen an den Angeklagten: Er solle sich von Straftaten fernhalten, seine Post öffnen und seinen Wohnsitz ordnungsgemäß anmelden.

Fälle aus unserem Archiv

Fall 28

Eine Frau wurde per Strafbefehl zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die ihr gerichtlich zugeteilte Pflichtverteidigung legte dagegen Einspruch ein. Bei der Verhandlung ist weder die Verteidigung noch eine angemessene Dolmetschung anwesend. Da die Frau zum Tatzeitpunkt eine in Deutschland verbotene Waffe bei sich trug, drängt die Richterin sie dazu, den Einspruch zurückzunehmen, da sie aus ihrer Sicht bereits eine milde Strafe erhalten habe. Sie urteilt hart über sie, weil sie mit „den falschen Leuten“ zu tun habe, und fordert sie auf, ihrem Kind ein besseres Beispiel zu geben.

Messer-Panik
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 27

Ein Mann, der wegen versuchter Körperverletzung mit einer Waffe verurteilt wurde, legt Berufung gegen sein Urteil ein. Die Verhandlung erfolgt unmittelbar nach einer Welle populistischer Stimmungsmache aufgrund eines Messerangriffs. Während der Verhandlung herrscht ein feindseliges, im Zuge der Messerpanik aufgeheiztes, Klima: Die Verteidigung wird daran gehindert, Zeug*innen zu befragen, während die Richterin und die Staatsanwältin darauf erpicht sind, den Angeklagten in Untersuchungshaft zu behalten, was auch seine Abschiebung erleichtern würde. Obwohl das Berufungsverfahren mangelnde Beweise offenlegt, besteht das Gericht auf eine hohe Haftstrafe. Der Angeklagte wird nach der zweiten Anhörung und zwölf Monaten in Untersuchungshaft freigelassen, da er seine Strafe bereits verbüßt hat.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Haftstrafe
Körperverletzung

Fall 25

Ohne eine anwesende angeklagte Person oder anwaltliche Vertretung erlässt das Gericht einen Strafbefehl, um eine Person per Post zu verurteilen. Die Staatsanwaltschaft drängt auf eine harte Strafe und darauf, den Tatbestand „Diebstahl mit Waffen“ beizubehalten, obwohl es wenige Beweise gibt und weder die angeklagte Person noch Zeug*innen befragt werden. Obwohl die Richterin mit der ursprünglichen Empfehlung der Staatsanwaltschaft für eine Haftstrafe nicht einverstanden ist, verhängt sie eine hohe Geldstrafe von mehr als 1.300 Euro für den Diebstahl von Lebensmitteln.

Messer-Panik
Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Diebstahl

Fall 24

Das Gericht verhandelt einen Fall, in dem ein junger Mann wegen mehrerer Delikte angeklagt ist, darunter Drogendelikte, Körperverletzung und Raub, wobei mehrfach ein Messer verwendet wurde. Nach sechs Anhörungen, die hauptsächlich aus der Vernehmung von Polizeizeugen bestehen, wird der Mann zu einer Gefängnisstrafe und einer Drogentherapie im Maßregelvollzug mit einer Gesamtdauer von fast sieben Jahren verurteilt. Das Gericht geht während der Verhandlung nicht auf die Bedürfnisse der Opfer ein: Stattdessen werden ihnen Suggestivfragen gestellt, die der Rechtfertigung einer harten Strafe dienen, und das Gericht macht sich stellenweise über sie lustig. Der strukturelle Kontext der Taten des Angeklagten wird in dem Verfahren weitgehend ausgeblendet.

Messer-Panik
Rassistisches Polizieren
Haftstrafe
Körperverletzung
Verstoß gegen BtMG
Sonstige

Perspektiven

Police carrying out searches on people standing next to a wall

Prozessbeobachtungen zeigen: Moralische Panik um „Messerkriminalität“ schürt Kriminalisierung

Justice Collective

Ein Blick auf Strafverfahren, bei denen Messer eine Rolle spielen, zeigt, dass diese Fälle oft weit von dem in den Medien gezeichneten Bild brutaler Angriffe entfernt sind. Wir liefern dazu Fallberichte, Analysen und eine Diskussionsveranstaltung.

Messer-Panik
Four politicians from Germany’s leading parties

Kriminalisiert: Die Anti-Migrationsdebatte legitimiert und verschleiert rassistische Politik und Praxis

Anthony Obst, Justice Collective

Mit der durch vereinzelte Gewalttaten der vergangenen Monate aufgeheizten Anti-Migrationsdebatte konnte sich ein rassistisch-autoritärer Konsens formieren, in dem Law-and-Order-Politik als alternativlos dargestellt wird. Es brauche immer härtere Maßnahmen der sozialen Kontrolle, um der Unsicherheit entgegenzuwirken, die angeblich auf Zuwanderung zurückzuführen sei. Das verzerrt die gewaltvolle Realität rassistischer Kriminalisierung.

Strafe als Grenzmechanismus
Migrationsdelikt
Sign that says "Fleeing war is not terrorism, dehumanising people is!"

Geflüchtet in Deutschland: Das allgegenwärtige Grenzregime

Britta Rabe, Grundrechtekomitee

Erreichen Menschen nach der Flucht durch Wüste, über Meer und Land lebendig Europäischen Boden, und haben Pushbacks, Schläge und vielleicht gar Folter überstanden, sind sie auch innerhalb der Festung Europa mit einem ausgrenzenden System konfrontiert, das ihr Ankommen auf vielfältige Weise erschwert bis unmöglich macht. Sie müssen feststellen, dass das EU-Grenzregime bis nach Deutschland hineinreicht. Grenzen durchziehen unsere Gesellschaften unsichtbar, aber spürbar für diejenigen, die sie ausschließen.

Strafe als Grenzmechanismus
Migrationsdelikt