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Zusammenfassung

Das Gericht übt Druck auf einen Mann aus, seine Berufung gegen eine Verurteilung wegen Widerstands und Angriffs auf Vollstreckungsbeamte zurückzuziehen. Obwohl das Verfahren den Mann sichtlich belastet, scheint der Richter nicht an seinen Schilderungen des Vorfalls interessiert zu sein. Dass es in dem Verfahren keine Entlastung für den Mann geben wird, wirkt sowohl seitens des Gerichts als auch seiner Verteidigung bereits vorherbestimmt.

Kommentar

In diesem Fall können wir beobachten, wie Abläufe und Vorgehensweisen im Strafsystem darauf angelegt sind, beschuldigte Personen einzuschüchtern und unter Druck zu setzen. Selbst, wenn sie anwaltlich vertreten werden (was nicht zwangsläufig der Fall ist), ist es für Betroffene nicht einfach, sich Gehör zu verschaffen. In diesem Fall bleibt es dem Mann verwehrt, seine Sicht der Dinge und seine persönlichen Umstände genauer darzulegen, denn das Gericht scheint sich dafür wenig zu interessieren. Auch seine Verteidigerin unternimmt nur wenige Versuche, den Standpunkt ihres Mandanten in das Verfahren einzubringen.

Der Richter geht mehrfach detailliert auf das Vorstrafenregister des Mannes ein, um dessen Charakter zu bewerten. Eine solche Logik widerspricht dem vermeintlichen Anspruch des Strafrechtssystems, auf Rehabilitierung ausgerichtet zu sein und stellt Retribution in den Vordergrund. Der Richter scheint den Angeklagten bereits abgeschrieben zu haben und betrachtet ihn offenbar als unerwünscht in Deutschland. Die Bemühungen des Mannes, die Erwartungen und Auflagen des Gerichts zu erfüllen, indem er sich regelmäßig mit seiner Bewährungshilfe trifft, den Alkoholkonsum einstellt und sich bei der Arbeitssuche engagiert, tragen nicht zu einer Strafmilderung bei.

Bericht

Zu Beginn der Verhandlung teilt der Richter dem Angeklagten mit, dass er nach Gesprächen mit dessen Anwältin und der Staatsanwaltschaft zu dem Schluss gekommen sei, dass eine Berufung nichts nützen würde und fragt ihn, ob er diese nicht zurücknehmen wolle. Der Dolmetscher des Angeklagten übersetzt nur teilweise und es wirkt, als würde er die vom Richter mitgeteilten juristischen Details sehr gekürzt zusammenfassen. Dabei ist unklar, ob dem Mann alle wichtigen Informationen kommuniziert werden.

Auf Grundlage dieses Austauschs erklärt sich der Mann mit einer beschränkten Berufung – also nur gegen die Höhe des Urteils – einverstanden, anstatt seinen Schuldspruch wegen Widerstands und tätlichen Angriffs auf die Polizei anzufechten. Die Staatsanwaltschaft führt aus, dass die Polizei den Mann an dem besagten Tag kontrolliert hatte. Er habe „zu nah an der Polizei“ gestanden und sei „aggressiv“ gewesen, woraufhin Beamte ihn zu Boden drückten. Er hatte an dem Tag getrunken und erklärt in der Verhandlung, er habe nicht verstanden, warum er kontrolliert und von den Beamt*innen festgehalten wurde. Der Hergang wird nicht weiter erörtert, da sich das Gericht umgehend der Frage nach dem Strafmaß widmet: Der Richter fordert den Mann auf, zu erklären, warum er eine niedrigere Strafe verdient habe.

Auf Aufforderung seiner Anwältin erklärt dieser, dass er nicht mehr trinkt, an Treffen einer Selbsthilfegruppe teilgenommen hat, Deutschkurse besucht und sich der Arbeitssuche widmet. Er steht unter Bewährungsaufsicht und meldet sich auch regelmäßig bei der Bewährungshilfe sowie dem Arbeitsamt. Der Richter stellt eine Reihe von Fragen: „Warum haben Sie aufgehört, zur Selbsthilfegruppe zu gehen?“, „Haben Sie Ihren Deutschkurs beendet?“, „Was haben Sie seit dem Ende des Deutschkurses gemacht?“, „Dürfen Sie überhaupt in Deutschland arbeiten?“, „Haben Sie Beweise, dass Sie clean sind?“ Diese Befragung belastet den Angeklagten sichtlich. Er antwortet ruhig, ist aber offensichtlich mitgenommen.

Der Mann erläutert seine schwierige finanzielle Lage und dass er deshalb seiner Arbeitssuche Priorität einräume. Er sei davon ausgegangen, dass sein Bewährungshelfer dem Gericht Nachweise über seine Nüchternheit zukommen lassen würde. Der Richter erwidert, dass ihn diese Nachweise nicht erreicht hätten und sagt, er könne deswegen jetzt auch nichts mehr tun. Dann fährt er mit der Verlesung des Strafregisters des Mannes fort.

Der Richter erklärt, dass er es für sinnlos halte, die Berufungsverhandlung fortzusetzen und dass es für den Betroffenen das Beste wäre, seine Berufung zurückzuziehen. Auf Drängen seiner Anwältin („Wir haben doch darüber gesprochen, was wir in diesem Fall tun würden...“) erklärt sich der Mann einverstanden.

Fälle aus unserem Archiv

Fall 28

Eine Frau wurde per Strafbefehl zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die ihr gerichtlich zugeteilte Pflichtverteidigung legte dagegen Einspruch ein. Bei der Verhandlung ist weder die Verteidigung noch eine angemessene Dolmetschung anwesend. Da die Frau zum Tatzeitpunkt eine in Deutschland verbotene Waffe bei sich trug, drängt die Richterin sie dazu, den Einspruch zurückzunehmen, da sie aus ihrer Sicht bereits eine milde Strafe erhalten habe. Sie urteilt hart über sie, weil sie mit „den falschen Leuten“ zu tun habe, und fordert sie auf, ihrem Kind ein besseres Beispiel zu geben.

Messer-Panik
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 27

Ein Mann, der wegen versuchter Körperverletzung mit einer Waffe verurteilt wurde, legt Berufung gegen sein Urteil ein. Die Verhandlung erfolgt unmittelbar nach einer Welle populistischer Stimmungsmache aufgrund eines Messerangriffs. Während der Verhandlung herrscht ein feindseliges, im Zuge der Messerpanik aufgeheiztes, Klima: Die Verteidigung wird daran gehindert, Zeug*innen zu befragen, während die Richterin und die Staatsanwältin darauf erpicht sind, den Angeklagten in Untersuchungshaft zu behalten, was auch seine Abschiebung erleichtern würde. Obwohl das Berufungsverfahren mangelnde Beweise offenlegt, besteht das Gericht auf eine hohe Haftstrafe. Der Angeklagte wird nach der zweiten Anhörung und zwölf Monaten in Untersuchungshaft freigelassen, da er seine Strafe bereits verbüßt hat.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Haftstrafe
Körperverletzung

Fall 26

Ein junger Mann steht wegen Diebstahls vor Gericht. Während der Verhandlung erfährt er, dass seine Strafe hoch ausfallen wird, weil er ein Messer bei sich hatte, obwohl es laut Beweislage nicht während der Tat verwendet wurde. Die Richterin droht dem Angeklagten mit einer Haftstrafe. Ohne anwaltlichen Rat bleibt ihm offenbar wenig übrig, als die harte Strafe zu akzeptieren und sich die Unterstellungen der Richterin gefallen zu lassen, dass er gewerbsmäßig stiehlt – genau wie die nicht näher spezifizierten „anderen“, auf die sich die Richterin bezieht.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 25

Ohne eine anwesende angeklagte Person oder anwaltliche Vertretung erlässt das Gericht einen Strafbefehl, um eine Person per Post zu verurteilen. Die Staatsanwaltschaft drängt auf eine harte Strafe und darauf, den Tatbestand „Diebstahl mit Waffen“ beizubehalten, obwohl es wenige Beweise gibt und weder die angeklagte Person noch Zeug*innen befragt werden. Obwohl die Richterin mit der ursprünglichen Empfehlung der Staatsanwaltschaft für eine Haftstrafe nicht einverstanden ist, verhängt sie eine hohe Geldstrafe von mehr als 1.300 Euro für den Diebstahl von Lebensmitteln.

Messer-Panik
Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Diebstahl

Perspektiven

Collage of: politicians holding report, police, and an arrow/graph.

Die polizeiliche Kriminalstatistik ist als Instrument zur Bewertung der Sicherheitslage ungeeignet

Justice Collective, Grundrechtekomitee und 40 weitere

Wissenschaftler*innen und Mitglieder der Zivilgesellschaft warnen vor der politisierten Nutzung der polizeilichen Kriminalitätsstatistik, die jedes Jahr dafür genutzt wird, falsche Narrative über steigende Kriminalität und vermeintlich „kriminelle Migrant*innen“ zu verbreiten. Die Unterzeichnenden stellen das durch das BKA und die Medien gezeichnete statistische Bild entschieden in Frage und betonen, dass die PKS zur Polarisierung der Gesellschaft und Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen beiträgt.

Rassistisches Polizieren
Picture of Berlin criminal court.

Rassimus vor Gericht dokumentieren: Interview mit Justizwatch

Justizwatch

Ein Interview mit Justizwatch über ihre Arbeit zur Dokumentation von Rassismus vor Gericht in Berlin.

Rassistisches Polizieren
image Solidarity is a Weapon, KOP

Solidarische Interventionen in rassistische Gewaltsysteme: Polizieren, Strafjustiz und (Massen-) Kriminalisierung

Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP)

Die Verschärfung staatlicher Repression, Marginalisierung und Militarisierung führt gegenwärtig zu einer Zunahme der Polizeigewalt, zu einer steigenden Zahl von Verhaftungen wegen Armutsdelikten und zur brutalen (strafrechtlichen) Disziplinierung „innerer Feinde“. In dieser Situation erscheint es dringend notwendig, darüber nachzudenken, wie wir den Kampf gegen rassistische Polizeigewalt und staatlichen Rassismus enger mit anderen Kämpfen verknüpfen können, um Entmenschlichung, Ausbeutung und weit verbreitete staatliche Gewalt endlich abzuschaffen.

Rassistisches Polizieren