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Zusammenfassung

Eine junge Frau gibt zu, eine Tüte mit Lebensmitteln gestohlen zu haben und entschuldigt sich dafür. Dennoch verhängt die Richterin eine hohe Geldstrafe und droht der Frau mit Gefängnis, sollte sie ein weiteres Mal verurteilt werden.

Kommentar

Der liberale Integrationsdiskurs, auf dem die Strategie der Verteidigerin aufbaut, lässt strukturelle Bedingungen so erscheinen, als könnten sie durch individuelle Entscheidungen leicht überwunden werden. Eine solche Überzeugung spiegelt sich auch in den Worten und Taten der Richterin wider: Sie stellt die Kriminalisierung der Frau als eine Folge charakterlichen Fehlverhaltens dar. Unter anderem durch moralisierende Vorstellungen wie diese, stehen migrantisierte Personen in Deutschland unter dem konstanten Druck, ihren eigenen „Wert“ nachzuweisen – z. B. indem sie sich arbeitstüchtig und gewillt zeigen, möglichst schnell Deutsch zu lernen. Wer das nicht tut, hat keine Gnade zu erwarten. In diesem Fall kommen zusätzlich spezielle Erwartungen an migrantisierte Mütter hinzu. Bei unseren Gerichtsbeobachtungen sehen wir immer wieder, wie migrantisierte Mütter besonders scharf unter die Lupe genommen und offen als „schlechte Mütter“ gerügt werden, auch wenn ihre Kriminalisierung strukturellen Umständen entspringt.

Obwohl die Frau schon mit dem ihr zur Verfügung stehenden Geld kaum über die Runden kommt, verurteilt die Richterin sie zu einer hohen Geldstrafe, welche ihre Situation noch weiter verschlechtern wird.

Bericht

Die Angeklagte ist eine junge Mutter, deren einziges Einkommen vom Jobcenter kommt. Sie wird durch eine Anwältin verteidigt, die offenbar eine Verteidigungsstrategie vorbereitet hat: Sie erläutert die schwierigen Umstände ihrer Mandantin, darunter ein Krieg in ihrem Heimatland und Schwierigkeiten, sich – wie die Anwältin es formuliert – in Deutschland zu „integrieren“. Sie erklärt, dass ihre Mandantin an einem Integrationskurs teilnimmt und dass sie in dem Geschäft, in dem sie erwischt wurde, bereits eine sogenannte „Fangprämie“ bezahlt hat. Dann spricht die Frau für sich selbst.

Die Richterin antwortet mit einem impliziten Urteil über die mütterlichen Fähigkeiten der Frau.

Daraufhin verliest die Richterin das Strafregister der Angeklagten, worin drei vorherige Verurteilungen wegen Diebstahls gelistet sind. Die Anwältin merkt an, dass all diese Verurteilungen per Strafbefehl erfolgten und suggeriert, dass ihre Mandantin womöglich Schwierigkeiten hatte, deren Inhalt und Bedeutung als strafrechtliches Urteil zu verstehen.

In ihrer Schlusserklärung betont die Frau erneut, dass sie Deutsch lernt und Arbeit finden möchte. Die Richterin merkt an, dass dieses Versprechen nun schriftlich vorliegt und dass die Frau deshalb bei einer weiteren Verurteilung mit einer Gefängnisstrafe zu rechnen hat. In ihrer Begründung führt sie aus, dass zwar die Vorstrafen der Frau gegen sie sprechen, aber die Tatsache, dass sie nur Lebensmittel und keine „Luxusartikel“ gestohlen hätte, sowie ihre Bereitschaft, sich zu „integrieren“ und zu arbeiten, für sie sprechen.

Fälle aus unserem Archiv

Fall 28

Eine Frau wurde per Strafbefehl zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die ihr gerichtlich zugeteilte Pflichtverteidigung legte dagegen Einspruch ein. Bei der Verhandlung ist weder die Verteidigung noch eine angemessene Dolmetschung anwesend. Da die Frau zum Tatzeitpunkt eine in Deutschland verbotene Waffe bei sich trug, drängt die Richterin sie dazu, den Einspruch zurückzunehmen, da sie aus ihrer Sicht bereits eine milde Strafe erhalten habe. Sie urteilt hart über sie, weil sie mit „den falschen Leuten“ zu tun habe, und fordert sie auf, ihrem Kind ein besseres Beispiel zu geben.

Messer-Panik
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 27

Ein Mann, der wegen versuchter Körperverletzung mit einer Waffe verurteilt wurde, legt Berufung gegen sein Urteil ein. Die Verhandlung erfolgt unmittelbar nach einer Welle populistischer Stimmungsmache aufgrund eines Messerangriffs. Während der Verhandlung herrscht ein feindseliges, im Zuge der Messerpanik aufgeheiztes, Klima: Die Verteidigung wird daran gehindert, Zeug*innen zu befragen, während die Richterin und die Staatsanwältin darauf erpicht sind, den Angeklagten in Untersuchungshaft zu behalten, was auch seine Abschiebung erleichtern würde. Obwohl das Berufungsverfahren mangelnde Beweise offenlegt, besteht das Gericht auf eine hohe Haftstrafe. Der Angeklagte wird nach der zweiten Anhörung und zwölf Monaten in Untersuchungshaft freigelassen, da er seine Strafe bereits verbüßt hat.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Haftstrafe
Körperverletzung

Fall 26

Ein junger Mann steht wegen Diebstahls vor Gericht. Während der Verhandlung erfährt er, dass seine Strafe hoch ausfallen wird, weil er ein Messer bei sich hatte, obwohl es laut Beweislage nicht während der Tat verwendet wurde. Die Richterin droht dem Angeklagten mit einer Haftstrafe. Ohne anwaltlichen Rat bleibt ihm offenbar wenig übrig, als die harte Strafe zu akzeptieren und sich die Unterstellungen der Richterin gefallen zu lassen, dass er gewerbsmäßig stiehlt – genau wie die nicht näher spezifizierten „anderen“, auf die sich die Richterin bezieht.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 25

Ohne eine anwesende angeklagte Person oder anwaltliche Vertretung erlässt das Gericht einen Strafbefehl, um eine Person per Post zu verurteilen. Die Staatsanwaltschaft drängt auf eine harte Strafe und darauf, den Tatbestand „Diebstahl mit Waffen“ beizubehalten, obwohl es wenige Beweise gibt und weder die angeklagte Person noch Zeug*innen befragt werden. Obwohl die Richterin mit der ursprünglichen Empfehlung der Staatsanwaltschaft für eine Haftstrafe nicht einverstanden ist, verhängt sie eine hohe Geldstrafe von mehr als 1.300 Euro für den Diebstahl von Lebensmitteln.

Messer-Panik
Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Diebstahl

Perspektiven