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Zusammenfassung

Nach mehr als sechs Wochen in Untersuchungshaft wegen geringfügigen Diebstahls wird ein junger Mann mit sechs weiteren Monaten Haft bestraft. Der Richter, der Staatsanwalt und sogar sein Anwalt betonen ihre Hoffnung, dass die harte Strafe ihn dazu bewegen wird, in sein früheres Wohnsitzland zurückzukehren.

Kommentar

In diesem Fall wird sichtbar, wie Kriminalisierung als Ausweisungsinstrument fungiert. Das Gericht gibt ungewöhnlich offen zu verstehen, dass es sich harter Strafen als einer Art Grenzmechanismus bedient. Migrantisierte Menschen, die es als unerwünscht ansieht, sollen dazu gebracht werden, aus Deutschland auszureisen. Das Urteil ist wesentlich härter als in vielen anderen Fällen geringfügigen Diebstahls, die wir beobachtet haben. Diese ziehen selten Gefängnisstrafen nach sich, vor allem nicht ohne Bewährung.

Der Fall ist auch ein Beispiel für die Ausbeutung der Arbeitskraft von Menschen im Gefängnis. Diese werden deutlich unter Mindestlohn bezahlt. Obwohl der angeklagte junge Mann in diesem Fall außerhalb des Gefängnisses keine Arbeitserlaubnis hat, was seine prekäre finanzielle Lage bedingt, wird seine Arbeitskraft hinter Gittern umso mehr ausgebeutet. Sein Aufenthalts- und Migrationsstatus strukturieren seine Erfahrung mit dem Gefängnis und dem Strafsystem im Allgemeinen.

Bericht

Die angeklagte Person in diesem Fall ist ein junger Mann, der sich seit einigen Jahren in Deutschland aufhält und zuvor in ein anderes europäisches Land eingewandert war. Dort hatte er zwei Berufsabschlüsse erworben und hat dort auch Familie. Mit seinem Aufenthaltsstatus darf er in Deutschland nicht arbeiten (zumindest nicht außerhalb der Haftanstalt) und erhält keine Sozialleistungen.

Ihm wird vorgeworfen, Kleidung im Wert von weniger als 100 € in einem Geschäft gestohlen zu haben. An dem besagten Tag hielt ihn Sicherheitspersonal an und er brachte die Waren zurück in den Laden, wo sie wieder für den Verkauf einsortiert wurden. Bei der Verhandlung gibt der Betroffene den Diebstahl zu, sodass es vor allem darum geht, das Strafmaß zu bestimmen.

Der Strafverteidiger liefert einige Hintergrundinformationen. Unter anderem benennt er noch einmal, dass sein Mandant in Deutschland nicht arbeiten darf. Dieser Fall sei seine dritte Anklage wegen Diebstahls, und er sei bereits zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Im Gefängnis habe er ein geringes Einkommen erzielt, doch sei ihm nach seiner Entlassung bald das Geld ausgegangen.

Der Richter fragt den Mann, was er mit der gestohlenen Kleidung vorgehabt habe. Dieser antwortet, dass er nichts zu essen gehabt habe und seine Kleidung schmutzig gewesen sei. Daraufhin antwortet der Richter, er hätte im Gefängnis Geld sparen sollen, und scherzt, dass man Kleidung ohnehin nicht essen könne.

In seinem Plädoyer fordert der Staatsanwalt eine sechsmonatige Freiheitsstrafe und die Entlassung des Angeklagten aus der Untersuchungshaft. Er sagt, der Mann solle seinen Aufenthalt in Deutschland überdenken. Er könne die Zeit vor Beginn seiner Gefängnisstrafe nutzen, um zu überlegen, ob er nicht in sein früheres Wohnsitzland zurückkehren wolle. Der Verteidiger ergänzt, dass sein Mandant qualifiziert sei, anderswo Arbeit zu finden, dass er in Deutschland allerdings keine Zukunft für ihn sehe. Er beantragt eine viermonatige Freiheitsstrafe.

Der Richter verurteilt den Mann zu sechs Monaten Haft. Er gibt ihm zu verstehen, dass er meint, es würde dem Mann in seinem früheren Wohnsitzland sicher besser ergehen. Er äußert die Hoffnung, der Angeklagte würde zu dem Schluss kommen, dass zurückzukehren besser sei, als weitere Zeit im Gefängnis in Deutschland zu verbringen.

Fälle aus unserem Archiv

Fall 28

Eine Frau wurde per Strafbefehl zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die ihr gerichtlich zugeteilte Pflichtverteidigung legte dagegen Einspruch ein. Bei der Verhandlung ist weder die Verteidigung noch eine angemessene Dolmetschung anwesend. Da die Frau zum Tatzeitpunkt eine in Deutschland verbotene Waffe bei sich trug, drängt die Richterin sie dazu, den Einspruch zurückzunehmen, da sie aus ihrer Sicht bereits eine milde Strafe erhalten habe. Sie urteilt hart über sie, weil sie mit „den falschen Leuten“ zu tun habe, und fordert sie auf, ihrem Kind ein besseres Beispiel zu geben.

Messer-Panik
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 27

Ein Mann, der wegen versuchter Körperverletzung mit einer Waffe verurteilt wurde, legt Berufung gegen sein Urteil ein. Die Verhandlung erfolgt unmittelbar nach einer Welle populistischer Stimmungsmache aufgrund eines Messerangriffs. Während der Verhandlung herrscht ein feindseliges, im Zuge der Messerpanik aufgeheiztes, Klima: Die Verteidigung wird daran gehindert, Zeug*innen zu befragen, während die Richterin und die Staatsanwältin darauf erpicht sind, den Angeklagten in Untersuchungshaft zu behalten, was auch seine Abschiebung erleichtern würde. Obwohl das Berufungsverfahren mangelnde Beweise offenlegt, besteht das Gericht auf eine hohe Haftstrafe. Der Angeklagte wird nach der zweiten Anhörung und zwölf Monaten in Untersuchungshaft freigelassen, da er seine Strafe bereits verbüßt hat.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Haftstrafe
Körperverletzung

Fall 26

Ein junger Mann steht wegen Diebstahls vor Gericht. Während der Verhandlung erfährt er, dass seine Strafe hoch ausfallen wird, weil er ein Messer bei sich hatte, obwohl es laut Beweislage nicht während der Tat verwendet wurde. Die Richterin droht dem Angeklagten mit einer Haftstrafe. Ohne anwaltlichen Rat bleibt ihm offenbar wenig übrig, als die harte Strafe zu akzeptieren und sich die Unterstellungen der Richterin gefallen zu lassen, dass er gewerbsmäßig stiehlt – genau wie die nicht näher spezifizierten „anderen“, auf die sich die Richterin bezieht.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 25

Ohne eine anwesende angeklagte Person oder anwaltliche Vertretung erlässt das Gericht einen Strafbefehl, um eine Person per Post zu verurteilen. Die Staatsanwaltschaft drängt auf eine harte Strafe und darauf, den Tatbestand „Diebstahl mit Waffen“ beizubehalten, obwohl es wenige Beweise gibt und weder die angeklagte Person noch Zeug*innen befragt werden. Obwohl die Richterin mit der ursprünglichen Empfehlung der Staatsanwaltschaft für eine Haftstrafe nicht einverstanden ist, verhängt sie eine hohe Geldstrafe von mehr als 1.300 Euro für den Diebstahl von Lebensmitteln.

Messer-Panik
Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Diebstahl

Perspektiven