Sprache wechseln

Menü

Zusammenfassung

Das Verfahren gegen eine junge Frau wegen Diebstahls wird im Schnellverfahren eingestellt, allerdings nur gegen eine Geldauflage. Sie erklärt, dass Sicherheitsvideos sie entlasten würden, aber das Gericht ist nicht dazu bereit, das Verfahren zu verlängern, um Beweise zu sichten, und geht offenbar von der Schuld der Frau aus.

Kommentar

Für einen Urteilsspruch in diesem Fall müsste das Gericht Beweise erheben. Die Richterin und der Staatsanwalt einigen sich jedoch aus Zeitgründen darauf, das Verfahren gegen eine Geldauflage einzustellen. Dies ist nach § 153a StPO zwar möglich, bedeutet aber, dass die Frau dennoch mehrere Hundert Euro zahlen muss. Zur Festsetzung der Höhe der Geldauflage wird die Zahlungsfähigkeit der Frau nicht überprüft.

Unabhängig davon, ob die Anschuldigungen gegen die Frau wahr sind oder nicht: Dieser Fall zeigt, wie sich Rassismus, Kapitalismus und Patriarchat als Herrschaftsformen überkreuzen, sodass rassifizierte Mütter auf spezifische Art kriminalisiert werden. In diesem Fall soll die Beschuldigte Grundbedarfsartikel gestohlen haben. Dass sie womöglich nicht genug Geld hat, um sich diese zu kaufen, spricht Bände über die Rassifizierung und Feminisierung von Armut im Kapitalismus.

Obwohl die Richterin und der Staatsanwalt so tun, als täten sie der Frau einen Gefallen, indem sie das Verfahren einstellen, machen sie deutlich, dass sie aus dem eigenen Interesse, Zeit zu sparen, handeln. Zudem zeigt sich, wie Gerichtsverfahren Strafen bereits vorwegnehmen können: Auch wenn die Frau offiziell nicht verurteilt wird, ist eine Geldauflage in Höhe mehrerer hundert Euro dennoch eine Strafe und wurde verhängt, weil das Gericht von der Schuld der Frau ausgeht. Die Anwendung des § 153a StPO, eigentlich als Instrument der Milde gedacht, wird hier zu einem Mittel der Bestrafung durch die Hintertür.

Bericht

Die angeklagte Person in diesem Fall ist eine junge, rassifizierte Mutter mit drei Kindern. Sie hat einen Dolmetscher, aber keine anwaltliche Vertretung. Im Laufe des Verfahrens antwortet der Dolmetscher wiederholt direkt auf die Fragen des Gerichts, anstatt so zu übersetzen, dass die Frau versteht, was passiert, und selbst antworten kann.

Auf Nachfrage der Richterin erklärt die Frau, dass sie nicht arbeitet. Daraufhin geht die Richterin davon aus, dass die Frau Bürgergeld bezieht, ohne sich dessen zu vergewissern. Als der Staatsanwalt die Anklage verliest, erfahren wir, dass die Frau beschuldigt wird, Nahrungsergänzungsmittel in geringen Mengen in einem Laden gestohlen zu haben.

Die Frau bestreitet die Vorwürfe und erklärt, sie habe die Artikel an der automatischen Kasse eingescannt und wisse nicht, warum sie nicht auf ihrem Kassenzettel erschienen seien. Zum Zeitpunkt des Geschehens hatte sie das Ladenpersonal gebeten, die Videoaufzeichnungen zu überprüfen, die ihre Darstellung bestätigen würden. Das Personal weigerte sich und rief die Polizei. Die Richterin verweist auf den Polizeibericht des Vorfalls und erklärt, die Frau habe der Polizei gesagt, dass die Artikel in ihrer Tasche in einem anderen Geschäft bezahlt worden seien. Die Frau sagt, sie sei missverstanden worden und habe eigentlich versucht, die Artikel im besagten Laden zu kaufen, nur seien sie nicht richtig gescannt worden. Ob der Frau bei der Polizeivernehmung eine Übersetzung zur Verfügung stand, wird nicht klargestellt.

Die Richterin diskutiert mit dem Staatsanwalt. Für einen Urteilsspruch müsste sie Beweise erheben. Der Staatsanwalt möchte das Verfahren nicht länger hinziehen, also einigt er sich mit der Richterin darauf, das Verfahren gegen Geldauflage einzustellen (Anwendung des § 153a StPO). Er schlägt zunächst 400 € vor, dann einigt er sich mit der Richterin auf 300 €. Die Zahlungsfähigkeit der Frau wird bei der Festsetzung der Geldauflage nicht überprüft. Die Richterin erwähnt, dass eine Ratenzahlung möglich ist, dies aber von der Beschuldigten beantragt werden muss. Als die Frau den Gerichtssaal verlässt, ruft ihr der Staatsanwalt hinterher: „Und noch etwas: Das war eine Ausnahme, dass wir es dabei belassen. Beim nächsten Mal sind wir nicht mehr so freundlich.“

Fälle aus unserem Archiv

Fall 28

Eine Frau wurde per Strafbefehl zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die ihr gerichtlich zugeteilte Pflichtverteidigung legte dagegen Einspruch ein. Bei der Verhandlung ist weder die Verteidigung noch eine angemessene Dolmetschung anwesend. Da die Frau zum Tatzeitpunkt eine in Deutschland verbotene Waffe bei sich trug, drängt die Richterin sie dazu, den Einspruch zurückzunehmen, da sie aus ihrer Sicht bereits eine milde Strafe erhalten habe. Sie urteilt hart über sie, weil sie mit „den falschen Leuten“ zu tun habe, und fordert sie auf, ihrem Kind ein besseres Beispiel zu geben.

Messer-Panik
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 27

Ein Mann, der wegen versuchter Körperverletzung mit einer Waffe verurteilt wurde, legt Berufung gegen sein Urteil ein. Die Verhandlung erfolgt unmittelbar nach einer Welle populistischer Stimmungsmache aufgrund eines Messerangriffs. Während der Verhandlung herrscht ein feindseliges, im Zuge der Messerpanik aufgeheiztes, Klima: Die Verteidigung wird daran gehindert, Zeug*innen zu befragen, während die Richterin und die Staatsanwältin darauf erpicht sind, den Angeklagten in Untersuchungshaft zu behalten, was auch seine Abschiebung erleichtern würde. Obwohl das Berufungsverfahren mangelnde Beweise offenlegt, besteht das Gericht auf eine hohe Haftstrafe. Der Angeklagte wird nach der zweiten Anhörung und zwölf Monaten in Untersuchungshaft freigelassen, da er seine Strafe bereits verbüßt hat.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Haftstrafe
Körperverletzung

Fall 26

Ein junger Mann steht wegen Diebstahls vor Gericht. Während der Verhandlung erfährt er, dass seine Strafe hoch ausfallen wird, weil er ein Messer bei sich hatte, obwohl es laut Beweislage nicht während der Tat verwendet wurde. Die Richterin droht dem Angeklagten mit einer Haftstrafe. Ohne anwaltlichen Rat bleibt ihm offenbar wenig übrig, als die harte Strafe zu akzeptieren und sich die Unterstellungen der Richterin gefallen zu lassen, dass er gewerbsmäßig stiehlt – genau wie die nicht näher spezifizierten „anderen“, auf die sich die Richterin bezieht.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 25

Ohne eine anwesende angeklagte Person oder anwaltliche Vertretung erlässt das Gericht einen Strafbefehl, um eine Person per Post zu verurteilen. Die Staatsanwaltschaft drängt auf eine harte Strafe und darauf, den Tatbestand „Diebstahl mit Waffen“ beizubehalten, obwohl es wenige Beweise gibt und weder die angeklagte Person noch Zeug*innen befragt werden. Obwohl die Richterin mit der ursprünglichen Empfehlung der Staatsanwaltschaft für eine Haftstrafe nicht einverstanden ist, verhängt sie eine hohe Geldstrafe von mehr als 1.300 Euro für den Diebstahl von Lebensmitteln.

Messer-Panik
Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Diebstahl

Perspektiven