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Zusammenfassung

Das Gericht verurteilt eine ältere Frau wegen geringfügigen Diebstahls in einem Supermarkt zu einer hohen Geldstrafe. Als das Urteil verkündet wird, treten Sicherheitskräfte an die Frau heran und nehmen sie fest. Gegen sie liegt ein Haftbefehl vor, da sie eine Geldstrafe aus einem früheren Fall nicht bezahlt hat; sie soll umgehend ins Gefängnis gebracht werden.

Kommentar

Die Atmosphäre im Gerichtssaal ist von Anfang an angespannt. Unsere Beobachter*innen bemerken zwar, dass zusätzliche Sicherheitskräfte im Raum sind, verstehen aber zunächst nicht, warum. Die angeklagte Person hatte keine Anwält*in, was normalerweise bedeutet, dass sie nicht mit einer Gefängnisstrafe zu rechnen hat.

Der Prozess führt die Gewalt des Strafsystems auf brutale Weise vor Augen. Das bemerken wir vor allem, als uns klar wird, dass die Behörden im Saal die ganze Zeit wussten, dass die Frau in Handschellen abgeführt und ins Gefängnis gebracht werden sollte. Die Richterin verhängt das Urteil in dem Wissen, dass die Frau wahrscheinlich auch für diesen Fall ins Gefängnis gehen wird, da sie ihre Geldstrafe nicht bezahlen kann.

In diesem Fall kann Justice Collective intervenieren und die Geldstrafe und Gerichtskosten zahlen, wodurch eine Haftstrafe vermieden wird. Während wir fast zwei Stunden damit beschäftigt sind, Formulare herauszusuchen und auszufüllen, wird die Frau ohne Übersetzer*in von der Polizei festgehalten.

Bericht

Eine ältere Frau erscheint zu ihrer Anhörung, während ihr erwachsener Sohn im Publikumsbereich sitzt. Sie ist vor einigen Jahren nach Deutschland gezogen und gibt an, von Sozialleistungen zu leben. Ihr wird vorgeworfen, etwas aus einem Supermarkt gestohlen zu haben. Die Anhörung findet ohne Anwält*in statt, und der Übersetzer übersetzt nur abschnittsweise.

Zu Beginn fragt die Richterin die Frau, wie man ihren Namen buchstabiert („manchmal bekommen wir Aliasse“), ob sie Deutsch lerne, und warum sie nach Deutschland gekommen sei. Auf ihre Antwort, dass sie vor häuslicher Gewalt geflüchtet sei, erwidert die Richterin, dies sei kein legitimer Grund, um nach Deutschland zu flüchten. (Die Behauptung der Richterin ist falsch. Einige Zeit vor diesem Verfahren stellte der Europäische Gerichtshof fest, dass geschlechtsspezifische Gewalt in der Tat zu asylrechtlichem Schutz führen kann.)

Als die Anhörung zu den Vorwürfen übergeht, gesteht die Angeklagte, die Gegenstände genommen zu haben. Sie erklärt, dass sie zu dem Zeitpunkt in keinem guten mentalen Zustand war und dass sie sich nicht daran erinnern kann, was genau passiert ist, aber nicht vorhatte zu stehlen. Sie versichert der Richterin, dass so etwas nicht noch einmal passieren wird.

Die Richterin verhängt eine Geldstrafe von fast 1.000 €, deutlich höher als die vom Staatsanwalt geforderte Summe. Zur Begründung erklärt die Richterin, dass sie nicht glaube, dass die Frau für das Vergehen ausreichend Verantwortung übernommen habe.

Es kommt zu Verwirrung, als die Richterin die Frau fragt, ob sie Einspruch gegen das Urteil einlegen möchte und diese scheinbar „Ja” antwortet, wobei unklar ist, ob der Übersetzer die Frage vollständig übersetzt hat. Der Sohn der Frau interveniert aus dem Zuschauerraum, um ihr zu erklären, was sie gefragt worden ist, und legt ihr nahe, dass sie keinen Einspruch einlegen sollte.

Während dieser Interaktion informiert die Richterin die Angeklagte darüber, dass sie heute nicht nach Hause gehen darf. Sie hat ihre Geldstrafe aus einer früheren Straftat sowie die Gerichtskosten noch nicht vollständig bezahlt und muss mit einer Ersatzfreiheitsstrafe von fast einem Monat rechnen. Sicherheitskräfte treten an die Frau heran, um sie festzunehmen. Der Dolmetscher hat wieder nicht vollständig übersetzt, was gesagt wurde, sodass die Frau sichtlich verwirrt und sehr besorgt ist.

Fälle aus unserem Archiv

Fall 28

Eine Frau wurde per Strafbefehl zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die ihr gerichtlich zugeteilte Pflichtverteidigung legte dagegen Einspruch ein. Bei der Verhandlung ist weder die Verteidigung noch eine angemessene Dolmetschung anwesend. Da die Frau zum Tatzeitpunkt eine in Deutschland verbotene Waffe bei sich trug, drängt die Richterin sie dazu, den Einspruch zurückzunehmen, da sie aus ihrer Sicht bereits eine milde Strafe erhalten habe. Sie urteilt hart über sie, weil sie mit „den falschen Leuten“ zu tun habe, und fordert sie auf, ihrem Kind ein besseres Beispiel zu geben.

Messer-Panik
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 27

Ein Mann, der wegen versuchter Körperverletzung mit einer Waffe verurteilt wurde, legt Berufung gegen sein Urteil ein. Die Verhandlung erfolgt unmittelbar nach einer Welle populistischer Stimmungsmache aufgrund eines Messerangriffs. Während der Verhandlung herrscht ein feindseliges, im Zuge der Messerpanik aufgeheiztes, Klima: Die Verteidigung wird daran gehindert, Zeug*innen zu befragen, während die Richterin und die Staatsanwältin darauf erpicht sind, den Angeklagten in Untersuchungshaft zu behalten, was auch seine Abschiebung erleichtern würde. Obwohl das Berufungsverfahren mangelnde Beweise offenlegt, besteht das Gericht auf eine hohe Haftstrafe. Der Angeklagte wird nach der zweiten Anhörung und zwölf Monaten in Untersuchungshaft freigelassen, da er seine Strafe bereits verbüßt hat.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Haftstrafe
Körperverletzung

Fall 26

Ein junger Mann steht wegen Diebstahls vor Gericht. Während der Verhandlung erfährt er, dass seine Strafe hoch ausfallen wird, weil er ein Messer bei sich hatte, obwohl es laut Beweislage nicht während der Tat verwendet wurde. Die Richterin droht dem Angeklagten mit einer Haftstrafe. Ohne anwaltlichen Rat bleibt ihm offenbar wenig übrig, als die harte Strafe zu akzeptieren und sich die Unterstellungen der Richterin gefallen zu lassen, dass er gewerbsmäßig stiehlt – genau wie die nicht näher spezifizierten „anderen“, auf die sich die Richterin bezieht.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 25

Ohne eine anwesende angeklagte Person oder anwaltliche Vertretung erlässt das Gericht einen Strafbefehl, um eine Person per Post zu verurteilen. Die Staatsanwaltschaft drängt auf eine harte Strafe und darauf, den Tatbestand „Diebstahl mit Waffen“ beizubehalten, obwohl es wenige Beweise gibt und weder die angeklagte Person noch Zeug*innen befragt werden. Obwohl die Richterin mit der ursprünglichen Empfehlung der Staatsanwaltschaft für eine Haftstrafe nicht einverstanden ist, verhängt sie eine hohe Geldstrafe von mehr als 1.300 Euro für den Diebstahl von Lebensmitteln.

Messer-Panik
Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Diebstahl

Perspektiven