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Zusammenfassung

Ein junger Mann wird aufgrund seiner Äußerungen bei einer Polizeikontrolle wegen Beleidigung verurteilt. Das Gericht berücksichtigt weder die Entschuldigung des Mannes noch die Tatsache, dass dieser die Kontrolle als diskriminierend empfand. Als ihm eine härtere Strafe angedroht wird, akzeptiert er die hohe Geldstrafe, gegen die er Einspruch eingelegt hatte.

Kommentar

In ihrem Buch Crook County beschreibt die US-amerikanische Soziologin Nicole Van Cleve Strafgerichtsverfahren als rassistische Erniedrigungszeremonien: „Vor Gericht können Staatsbedienstete ein zeremonielles Schauspiel vorführen, das den Anschein von Fairness erweckt. Dabei bleibt rassistische Diskriminierung hinter bürokratischen Vorgängen, gerichtlichen Abläufen sowie fehlender Aufsicht und Rechenschaftspflicht verborgen. Es ist eine Art staatlich legitimierte rassistische Gewalt, bei der weiße Beamt*innen unter dem Deckmantel der Verbrechensbekämpfung über Schwarze und Latinx Personen moralisch urteilen und sie bestrafen können.“ Obwohl in Deutschland auch andere rassifizierte Gruppen besonders betroffen sind, können wir in diesem Fall eine ähnliche Dynamik beobachten.

Der Prozess wirkt auf die Prozessbeobachter*innen wie inszeniert, so als wäre er eine rituelle Bestrafung und Demütigung dieses rassifizierten Mannes. Unter anderem hat dieser es nämlich gewagt, die Polizeikontrolle als diskriminierend zu bezeichnen. Der Richter fragt die als Zeugen geladenen Polizeibeamten, wie der Betroffene Wiedergutmachung leisten könne. Das ist demütigend und zeigt, auf wessen Seite das Gericht steht. Den Polizisten ist die Genugtuung anzusehen, als sie – vom Richter aufgefordert – ihre Macht erneut demonstrieren dürfen und von dem Angeklagten verlangen, sich öffentlich zu entschuldigen. Am Ende der rassistischen Erniedrigungszeremonie stellt der Richter Fragen, die stark in die Privatsphäre des Mannes eindringen, aber das Urteil nicht beeinflussten.

Bericht

Der Beschuldigte arbeitet als Mechaniker und erscheint in Arbeitsuniform zur Anhörung. Die Staatsanwaltschaft verliest die Anklage, wodurch wir eine Version der Geschehnisse erhalten, die sich an dem besagten Tag zugetragen haben sollen. Der Mann wurde von zwei Polizeibeamten kontrolliert, die ihn später aufgrund seiner Äußerungen wegen Beleidigung anzeigten. Er erhielt einen Strafbefehl mit einer Geldstrafe von mehr als 2.000 €. Dagegen legte er Einspruch ein.

Bei seiner Vernehmung gibt der Betroffene seine Version der Ereignisse wieder. Er erklärt, dass er die Gründe für die Polizeikontrolle nicht verstanden und die Kontrolle als diskriminierend empfunden habe. Die Polizei habe ihm nicht erklärt, warum er sich ausweisen musste, und deshalb habe er sich geweigert, dies zu tun. Daraufhin habe der Polizist seine Freundin gefragt, was sie „von so einem Loser“ wolle. Er habe diese Bemerkung als unangemessen empfunden und deshalb mit der Beleidigung reagiert, die ihm später zur Last gelegt worden sei.

Der Richter stellt keine weiteren Fragen. Er teilt dem Mann mit, dass er die Aussage der beiden als Zeugen geladenen Polizisten in diesem Fall für glaubwürdig halte. Der Mann werde wahrscheinlich eine härtere Strafe bekommen, wenn er seinen Einspruch gegen den Strafbefehl nicht zurückziehe.

Der Verteidiger geht auf die Bemerkungen des Richters ein und beschränkt den Einspruch seines Mandanten auf die Rechtsfolgen. Das bedeutet, der Einspruch richtet sich nur noch gegen die Höhe der Geldstrafe, nicht gegen den Strafbefehl und den damit verbundenen Vorwurf an sich. Das Gericht ruft die als Zeugen geladenen Polizisten in den Gerichtssaal und fragt sie, ob der Mann eine Wiedergutmachung leisten (und somit eine niedrigere Geldstrafe erhalten) könnte. Einer von ihnen bittet um eine öffentliche Entschuldigung, woraufhin der Richter mit den Achseln zuckt und den Betroffenen mit einer Geste auffordert, dies zu tun. Der Mann entschuldigt sich. Der Richter bittet die Polizisten, zu bestätigen, dass sie die Entschuldigung annehmen.

Anschließend stellt der Richter detaillierte Fragen zum Substanz- und Alkoholkonsum des Angeklagten, zu seinen familiären Beziehungen (unter anderem auch, wie das Verhältnis zu seinen Schwestern sei) und zu seinen Hobbys. Außerdem wird er zu seiner finanziellen Situation befragt. Doch all diese Fragen haben keinen Einfluss auf das Urteil. Es bleibt bei der Geldstrafe in Höhe von über 2.000 €.

Fälle aus unserem Archiv

Fall 28

Eine Frau wurde per Strafbefehl zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die ihr gerichtlich zugeteilte Pflichtverteidigung legte dagegen Einspruch ein. Bei der Verhandlung ist weder die Verteidigung noch eine angemessene Dolmetschung anwesend. Da die Frau zum Tatzeitpunkt eine in Deutschland verbotene Waffe bei sich trug, drängt die Richterin sie dazu, den Einspruch zurückzunehmen, da sie aus ihrer Sicht bereits eine milde Strafe erhalten habe. Sie urteilt hart über sie, weil sie mit „den falschen Leuten“ zu tun habe, und fordert sie auf, ihrem Kind ein besseres Beispiel zu geben.

Messer-Panik
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 27

Ein Mann, der wegen versuchter Körperverletzung mit einer Waffe verurteilt wurde, legt Berufung gegen sein Urteil ein. Die Verhandlung erfolgt unmittelbar nach einer Welle populistischer Stimmungsmache aufgrund eines Messerangriffs. Während der Verhandlung herrscht ein feindseliges, im Zuge der Messerpanik aufgeheiztes, Klima: Die Verteidigung wird daran gehindert, Zeug*innen zu befragen, während die Richterin und die Staatsanwältin darauf erpicht sind, den Angeklagten in Untersuchungshaft zu behalten, was auch seine Abschiebung erleichtern würde. Obwohl das Berufungsverfahren mangelnde Beweise offenlegt, besteht das Gericht auf eine hohe Haftstrafe. Der Angeklagte wird nach der zweiten Anhörung und zwölf Monaten in Untersuchungshaft freigelassen, da er seine Strafe bereits verbüßt hat.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Haftstrafe
Körperverletzung

Fall 26

Ein junger Mann steht wegen Diebstahls vor Gericht. Während der Verhandlung erfährt er, dass seine Strafe hoch ausfallen wird, weil er ein Messer bei sich hatte, obwohl es laut Beweislage nicht während der Tat verwendet wurde. Die Richterin droht dem Angeklagten mit einer Haftstrafe. Ohne anwaltlichen Rat bleibt ihm offenbar wenig übrig, als die harte Strafe zu akzeptieren und sich die Unterstellungen der Richterin gefallen zu lassen, dass er gewerbsmäßig stiehlt – genau wie die nicht näher spezifizierten „anderen“, auf die sich die Richterin bezieht.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 25

Ohne eine anwesende angeklagte Person oder anwaltliche Vertretung erlässt das Gericht einen Strafbefehl, um eine Person per Post zu verurteilen. Die Staatsanwaltschaft drängt auf eine harte Strafe und darauf, den Tatbestand „Diebstahl mit Waffen“ beizubehalten, obwohl es wenige Beweise gibt und weder die angeklagte Person noch Zeug*innen befragt werden. Obwohl die Richterin mit der ursprünglichen Empfehlung der Staatsanwaltschaft für eine Haftstrafe nicht einverstanden ist, verhängt sie eine hohe Geldstrafe von mehr als 1.300 Euro für den Diebstahl von Lebensmitteln.

Messer-Panik
Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Diebstahl

Perspektiven

Collage of: politicians holding report, police, and an arrow/graph.

Die polizeiliche Kriminalstatistik ist als Instrument zur Bewertung der Sicherheitslage ungeeignet

Justice Collective, Grundrechtekomitee und 40 weitere

Wissenschaftler*innen und Mitglieder der Zivilgesellschaft warnen vor der politisierten Nutzung der polizeilichen Kriminalitätsstatistik, die jedes Jahr dafür genutzt wird, falsche Narrative über steigende Kriminalität und vermeintlich „kriminelle Migrant*innen“ zu verbreiten. Die Unterzeichnenden stellen das durch das BKA und die Medien gezeichnete statistische Bild entschieden in Frage und betonen, dass die PKS zur Polarisierung der Gesellschaft und Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen beiträgt.

Rassistisches Polizieren
Picture of Berlin criminal court.

Rassimus vor Gericht dokumentieren: Interview mit Justizwatch

Justizwatch

Ein Interview mit Justizwatch über ihre Arbeit zur Dokumentation von Rassismus vor Gericht in Berlin.

Rassistisches Polizieren
image Solidarity is a Weapon, KOP

Solidarische Interventionen in rassistische Gewaltsysteme: Polizieren, Strafjustiz und (Massen-) Kriminalisierung

Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP)

Die Verschärfung staatlicher Repression, Marginalisierung und Militarisierung führt gegenwärtig zu einer Zunahme der Polizeigewalt, zu einer steigenden Zahl von Verhaftungen wegen Armutsdelikten und zur brutalen (strafrechtlichen) Disziplinierung „innerer Feinde“. In dieser Situation erscheint es dringend notwendig, darüber nachzudenken, wie wir den Kampf gegen rassistische Polizeigewalt und staatlichen Rassismus enger mit anderen Kämpfen verknüpfen können, um Entmenschlichung, Ausbeutung und weit verbreitete staatliche Gewalt endlich abzuschaffen.

Rassistisches Polizieren