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Zusammenfassung

Ein junger, rassifizierter Mann befindet sich seit über einem Monat in U-Haft. Er wird wegen sechsfachen Diebstahls zu eineinhalb Jahren Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt. Eine Rolle in dem Verfahren spielt, dass er wiederholt von der Polizei an einem so genannten „kriminalitätsbelasteten Ort“ kontrolliert wurde. Einige daraus resultierende Verfahren gegen ihn werden zwar eingestellt, tragen aber dazu bei, dass das Gericht dem Mann eine „kriminelle Energie“ zuschreibt.

Kommentar

Bei der Verurteilung hält die Richterin dem Mann vor, dass er zuvor von der Polizei an einem „kriminalitätsbelasteten Ort“ kontrolliert wurde. Das sind Gegenden, die die Polizei als besonders „gefährlich“ eingestuft hat und dadurch verdachtsunabhängige Kontrollen mit eventuell weiteren Folgemaßnahmen durchführen darf, was sonst nur bei Bestehen eines „Anfangsverdachts“ rechtlich möglich ist. Meist handelt es sich dabei um migrantisch geprägte Gegenden. Verdachtsunabhängige Kontrollen begünstigen Racial Profiling als gängige Polizeipraxis, welche für die Betroffenen zumeist sehr demütigend ist, da sie in der Öffentlichkeit stattfindet und gerade dadurch noch einmal rassistische Bilder reproduziert. Der Mann wird also härter bestraft, weil er in einem Gebiet angehalten wurde, das der polizeilichen Praxis des Racial Profiling einen Deckmantel der Legitimität bietet. Als wäre die gängige Praxis, immer härtere Strafen gegen Menschen zu verhängen, die straffällig werden, nicht ungerecht genug, zieht die Richterin frühere Anzeigen gegen den Mann für die Strafzumessung heran, obwohl diese fallengelassen wurden. Racial Profiling schafft somit einen sich selbst verstärkenden Kreislauf, da die bloße Kontrolle Menschen zu „Kriminellen“ macht, was dann wiederum als Rechtfertigung für diese Praxis dient und härtere Strafen zur Folge hat.

Strafverschärfend wirkte sich in diesem Fall auch aus, dass das Gericht dem Mann „gewerbsmäßigen“ Diebstahl vorwirft, weil er in kurzer Zeit mehrere Straftaten begangen haben soll. Laut Gesetz müsste er mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu zehn Jahren bestraft werden, wenn jeder der Diebstähle einen Schaden von mehr als 50 EUR verursacht hat (§ 243 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Dieses Gesetz (§ 243 Abs. 1 Nr. 2 StGB) wurde von Expert*innen als Armutsstrafe und Diskriminierung von Menschen mit Suchterkrankungen kritisiert. Menschen, die aus Not und damit regelmäßig stehlen, werden durch diesen Paragrafen härter bestraft. Dabei sollte eine Sucht als strafmildernder Faktor berücksichtigt werden, insbesondere wenn die Person ausschließlich gestohlen hat, um ihre Sucht zu finanzieren, und nicht für grundlegende Bedürfnisse wie Miete oder Kleidung. Dass der Mann in diesem Fall angibt, er habe wegen seines Substanzkonsums gestohlen, findet im Strafmaß gar keine Berücksichtigung.

Bericht

Das Verfahren beginnt damit, dass der Betroffene aus der Untersuchungshaft vorgeführt wird, in der er sich seit über einem Monat befindet. Es wird erwähnt, dass er keinen Wohnsitz in Deutschland hat, was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass er wegen sechs Fällen von „gewerbsmäßigem“ Diebstahl in Untersuchungshaft sitzt.

Nachdem die Einzelheiten der mutmaßlichen Vorfälle verlesen worden sind, erklärt der Verteidiger, dass sein Mandant die ihm vorgeworfenen Taten gestehe. Sein Mandant habe zum Zeitpunkt der Vorfälle über kein Einkommen verfügt und sei nicht in der Lage gewesen, Arbeit zu finden. Er erwähnt auch, dass sein Mandant regelmäßig Substanzen konsumiere (ein strafmildernder Umstand), geht aber erst nach Aufforderung der Richterin näher darauf ein. Der Betroffene erklärt, dass er regelmäßig Substanzen konsumiere und Diebstähle verübt habe, um seinen Konsum zu finanzieren.

Die Richterin führt aus, dass der Mann ihren Informationen zufolge der Polizei bekannt gewesen sei, die ihn mehrfach an einem „kriminalitätsbelasteten Ort“ angehalten habe. Einmal seien bei dem Mann angeblich Drogen gefunden worden, aber die Staatsanwaltschaft habe alle Verfahren im Zusammenhang mit dem Vorwurf des Drogenhandels eingestellt.

Die Staatsanwältin beantragt eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten ohne Bewährung. Sie begründet dieses Strafmaß zum Teil damit, dass die Straftaten kurz hintereinander erfolgt seien und dass damit Vorsatz und ein „geschäftsmäßiges Vorgehen“ erkennbar seien. Der Anwalt des Mannes stimmt der Staatsanwältin teilweise zu, sagt aber auch, dass sein Mandant ein Problem mit Substanzkonsum gehabt habe und keine Arbeit finden konnte. Er plädiert auf eine achtmonatige Haftstrafe auf Bewährung.

Letztendlich wird der Mann zu einer Haftstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten ohne Bewährung verurteilt. Bei der Urteilsbegründung sagt die Richterin, sie habe berücksichtigt, dass der Mann mehr als einen Monat in Untersuchungshaft verbracht habe, was, wie sie sagt, „für einen Nicht-Muttersprachler nicht ganz einfach ist“. Sie glaube zwar, dass Substanzkonsum bei den Straftaten eine Rolle gespielt habe, aber auch, dass der Angeklagte „gewerbsmäßig“ vorgegangen sei. Sie geht auch auf die Polizeikontrollen am kbO ein und sagt, dass die häufigen Polizeikontrollen offenbar keinen „nachhaltigen Eindruck“ auf ihn gemacht hätten. Angesichts dieser Punkte könne sie nicht erkennen, wie jemand wie er (sie betont dieses Wort) ohne Therapie und Rehabilitation auf einen positiven Weg kommen könnte.

Fälle aus unserem Archiv

Fall 28

Eine Frau wurde per Strafbefehl zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die ihr gerichtlich zugeteilte Pflichtverteidigung legte dagegen Einspruch ein. Bei der Verhandlung ist weder die Verteidigung noch eine angemessene Dolmetschung anwesend. Da die Frau zum Tatzeitpunkt eine in Deutschland verbotene Waffe bei sich trug, drängt die Richterin sie dazu, den Einspruch zurückzunehmen, da sie aus ihrer Sicht bereits eine milde Strafe erhalten habe. Sie urteilt hart über sie, weil sie mit „den falschen Leuten“ zu tun habe, und fordert sie auf, ihrem Kind ein besseres Beispiel zu geben.

Messer-Panik
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 27

Ein Mann, der wegen versuchter Körperverletzung mit einer Waffe verurteilt wurde, legt Berufung gegen sein Urteil ein. Die Verhandlung erfolgt unmittelbar nach einer Welle populistischer Stimmungsmache aufgrund eines Messerangriffs. Während der Verhandlung herrscht ein feindseliges, im Zuge der Messerpanik aufgeheiztes, Klima: Die Verteidigung wird daran gehindert, Zeug*innen zu befragen, während die Richterin und die Staatsanwältin darauf erpicht sind, den Angeklagten in Untersuchungshaft zu behalten, was auch seine Abschiebung erleichtern würde. Obwohl das Berufungsverfahren mangelnde Beweise offenlegt, besteht das Gericht auf eine hohe Haftstrafe. Der Angeklagte wird nach der zweiten Anhörung und zwölf Monaten in Untersuchungshaft freigelassen, da er seine Strafe bereits verbüßt hat.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Haftstrafe
Körperverletzung

Fall 26

Ein junger Mann steht wegen Diebstahls vor Gericht. Während der Verhandlung erfährt er, dass seine Strafe hoch ausfallen wird, weil er ein Messer bei sich hatte, obwohl es laut Beweislage nicht während der Tat verwendet wurde. Die Richterin droht dem Angeklagten mit einer Haftstrafe. Ohne anwaltlichen Rat bleibt ihm offenbar wenig übrig, als die harte Strafe zu akzeptieren und sich die Unterstellungen der Richterin gefallen zu lassen, dass er gewerbsmäßig stiehlt – genau wie die nicht näher spezifizierten „anderen“, auf die sich die Richterin bezieht.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 25

Ohne eine anwesende angeklagte Person oder anwaltliche Vertretung erlässt das Gericht einen Strafbefehl, um eine Person per Post zu verurteilen. Die Staatsanwaltschaft drängt auf eine harte Strafe und darauf, den Tatbestand „Diebstahl mit Waffen“ beizubehalten, obwohl es wenige Beweise gibt und weder die angeklagte Person noch Zeug*innen befragt werden. Obwohl die Richterin mit der ursprünglichen Empfehlung der Staatsanwaltschaft für eine Haftstrafe nicht einverstanden ist, verhängt sie eine hohe Geldstrafe von mehr als 1.300 Euro für den Diebstahl von Lebensmitteln.

Messer-Panik
Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Diebstahl

Perspektiven

Collage of: politicians holding report, police, and an arrow/graph.

Die polizeiliche Kriminalstatistik ist als Instrument zur Bewertung der Sicherheitslage ungeeignet

Justice Collective, Grundrechtekomitee und 40 weitere

Wissenschaftler*innen und Mitglieder der Zivilgesellschaft warnen vor der politisierten Nutzung der polizeilichen Kriminalitätsstatistik, die jedes Jahr dafür genutzt wird, falsche Narrative über steigende Kriminalität und vermeintlich „kriminelle Migrant*innen“ zu verbreiten. Die Unterzeichnenden stellen das durch das BKA und die Medien gezeichnete statistische Bild entschieden in Frage und betonen, dass die PKS zur Polarisierung der Gesellschaft und Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen beiträgt.

Rassistisches Polizieren
Four politicians from Germany’s leading parties

Kriminalisiert: Die Anti-Migrationsdebatte legitimiert und verschleiert rassistische Politik und Praxis

Anthony Obst, Justice Collective

Mit der durch vereinzelte Gewalttaten der vergangenen Monate aufgeheizten Anti-Migrationsdebatte konnte sich ein rassistisch-autoritärer Konsens formieren, in dem Law-and-Order-Politik als alternativlos dargestellt wird. Es brauche immer härtere Maßnahmen der sozialen Kontrolle, um der Unsicherheit entgegenzuwirken, die angeblich auf Zuwanderung zurückzuführen sei. Das verzerrt die gewaltvolle Realität rassistischer Kriminalisierung.

Strafe als Grenzmechanismus
Migrationsdelikt
Picture of Berlin criminal court.

Rassimus vor Gericht dokumentieren: Interview mit Justizwatch

Justizwatch

Ein Interview mit Justizwatch über ihre Arbeit zur Dokumentation von Rassismus vor Gericht in Berlin.

Rassistisches Polizieren
image Solidarity is a Weapon, KOP

Solidarische Interventionen in rassistische Gewaltsysteme: Polizieren, Strafjustiz und (Massen-) Kriminalisierung

Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP)

Die Verschärfung staatlicher Repression, Marginalisierung und Militarisierung führt gegenwärtig zu einer Zunahme der Polizeigewalt, zu einer steigenden Zahl von Verhaftungen wegen Armutsdelikten und zur brutalen (strafrechtlichen) Disziplinierung „innerer Feinde“. In dieser Situation erscheint es dringend notwendig, darüber nachzudenken, wie wir den Kampf gegen rassistische Polizeigewalt und staatlichen Rassismus enger mit anderen Kämpfen verknüpfen können, um Entmenschlichung, Ausbeutung und weit verbreitete staatliche Gewalt endlich abzuschaffen.

Rassistisches Polizieren