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Zusammenfassung

Ein junger Mann, der noch alte Geldstrafen abbezahlt, wird wegen des Diebstahls eines Sandwiches und einer Schokolade zu einer Geldstrafe von 600 € verurteilt. Obwohl das Gericht finanzielle Not als Motiv anerkennt, betont die Richterin, Diebstahl sei „keine Lösung“.

Kommentar

Das Strafsystem zielt zwar besonders auf migrantisierte und rassifizierte Menschen ab, richtet sich jedoch systematisch auch gegen alle, die von Armut betroffen sind. In diesem Fall wird ein weißer deutscher Mann dafür bestraft, dass er nicht genug Geld hatte, um für sein Essen zu zahlen. Obwohl die Richterin anerkennt, dass dies der Grund für den Diebstahl ist, besteht das System darauf, dass der Mann bestraft werden muss. Die Aussage der Richterin, Diebstahl sei „keine Lösung“, trägt eine bittere Ironie: Welche Lösung bietet Bestrafung für Menschen, die sich Grundbedürfnisse wie Nahrung nicht leisten können? Die zusätzliche Geldstrafe wird die monatlichen Zahlungen des Mannes auf fast die Hälfte seines monatlichen Einkommens erhöhen. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der Mann auf Diebstahl als Überlebensstrategie angewiesen ist – und letztlich im Gefängnis landet, wenn er die Strafen nicht mehr begleichen kann (durch Ersatzfreiheitsstrafe). So perpetuiert das System Armut und kriminalisiert die Betroffenen, statt echte Lösungen anzubieten.

Obwohl der Mann hart bestraft wurde, konnten wir dennoch beobachten, dass er als weißer Deutscher anders – und zwar etwas wohlwollender – behandelt wurde als viele Angeklagte in Fällen, die sich gegen rassifizierte und migrantisierte Menschen richten. Zum Beispiel erleben wir fast nie, dass das Gericht eine Strafe von 10 € pro Tag verhängt, selbst bei Menschen, deren Einkommen unter dem Bürgergeld-Regelsatz liegt, wie z.B. bei Asylbewerber*innen. Laut Gesetz sollten sich Geldstrafen nach den finanziellen Verhältnissen der Betroffenen richten, sind aber für Menschen mit geringem Einkommen in der Regel zu hoch. So setzt das Gericht bei Menschen, die Bürgergeld erhalten, routinemäßig 15 € pro Tag an, also fast ihr gesamtes Tageseinkommen. In diesem Fall ging das Gericht auf 10 € herunter. Indem die Richterin anerkennt, dass Geldmangel wahrscheinlich eine Rolle bei dem Diebstahl gespielt hat, zeigt sie auch mehr Verständnis, als es den meisten Angeklagten entgegengebracht wird.

Bericht

Die Verhandlung dauert nur wenige Minuten. Die Richterin stellt dem Angeklagten, der keinen Rechtsbeistand hat, ein paar kurze Fragen zu dem Vorwurf, er habe ein Sandwich und etwas Schokolade in einem Supermarkt gestohlen.

Der Mann ergänzt, dass er bereits Geldstrafen für drei vorige Urteile in Raten abbezahlt, die 40 % seines Bürgergeldes ausmachen.

Die Richterin stimmt dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft zu, eine Geldstrafe von 600 € (60 Tage zu 10 €/Tag) zu verhängen. Sie erklärt, dass der Diebstahl „eine dumme Sache“ sei und dass der Mann zwar kein Geld hatte, aber Diebstahl dennoch keine Lösung sei. Sie fügt hinzu, dass seine früheren Verurteilungen, für die er immer noch zahlt, in die Strafzumessung einflossen.

Fälle aus unserem Archiv

Fall 28

Eine Frau wurde per Strafbefehl zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die ihr gerichtlich zugeteilte Pflichtverteidigung legte dagegen Einspruch ein. Bei der Verhandlung ist weder die Verteidigung noch eine angemessene Dolmetschung anwesend. Da die Frau zum Tatzeitpunkt eine in Deutschland verbotene Waffe bei sich trug, drängt die Richterin sie dazu, den Einspruch zurückzunehmen, da sie aus ihrer Sicht bereits eine milde Strafe erhalten habe. Sie urteilt hart über sie, weil sie mit „den falschen Leuten“ zu tun habe, und fordert sie auf, ihrem Kind ein besseres Beispiel zu geben.

Messer-Panik
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 27

Ein Mann, der wegen versuchter Körperverletzung mit einer Waffe verurteilt wurde, legt Berufung gegen sein Urteil ein. Die Verhandlung erfolgt unmittelbar nach einer Welle populistischer Stimmungsmache aufgrund eines Messerangriffs. Während der Verhandlung herrscht ein feindseliges, im Zuge der Messerpanik aufgeheiztes, Klima: Die Verteidigung wird daran gehindert, Zeug*innen zu befragen, während die Richterin und die Staatsanwältin darauf erpicht sind, den Angeklagten in Untersuchungshaft zu behalten, was auch seine Abschiebung erleichtern würde. Obwohl das Berufungsverfahren mangelnde Beweise offenlegt, besteht das Gericht auf eine hohe Haftstrafe. Der Angeklagte wird nach der zweiten Anhörung und zwölf Monaten in Untersuchungshaft freigelassen, da er seine Strafe bereits verbüßt hat.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Haftstrafe
Körperverletzung

Fall 26

Ein junger Mann steht wegen Diebstahls vor Gericht. Während der Verhandlung erfährt er, dass seine Strafe hoch ausfallen wird, weil er ein Messer bei sich hatte, obwohl es laut Beweislage nicht während der Tat verwendet wurde. Die Richterin droht dem Angeklagten mit einer Haftstrafe. Ohne anwaltlichen Rat bleibt ihm offenbar wenig übrig, als die harte Strafe zu akzeptieren und sich die Unterstellungen der Richterin gefallen zu lassen, dass er gewerbsmäßig stiehlt – genau wie die nicht näher spezifizierten „anderen“, auf die sich die Richterin bezieht.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 25

Ohne eine anwesende angeklagte Person oder anwaltliche Vertretung erlässt das Gericht einen Strafbefehl, um eine Person per Post zu verurteilen. Die Staatsanwaltschaft drängt auf eine harte Strafe und darauf, den Tatbestand „Diebstahl mit Waffen“ beizubehalten, obwohl es wenige Beweise gibt und weder die angeklagte Person noch Zeug*innen befragt werden. Obwohl die Richterin mit der ursprünglichen Empfehlung der Staatsanwaltschaft für eine Haftstrafe nicht einverstanden ist, verhängt sie eine hohe Geldstrafe von mehr als 1.300 Euro für den Diebstahl von Lebensmitteln.

Messer-Panik
Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Diebstahl

Perspektiven