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Zusammenfassung

Eine junge Frau wird wegen mehrfachen Ladendiebstahls zu neun Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Ihr desinteressierter Anwalt setzt sich kaum für sie ein und erläutert auch nicht die Umstände ihres prekären Beschäftigungsverhältnisses, welches in diesem Fall einen relevanten Hintergrund bildet, sich aber nicht auf die Entscheidung des Gerichts auswirkt.

Kommentar

Obwohl unsere Prozessbeobachter*innen vor dem offiziellen Beginn der Verhandlung Gespräche zwischen der Richterin und dem Verteidiger mithören konnten, bleibt einiges unklar. So wissen wir zum Beispiel nicht, ob oder wie gut die beschuldigte Frau ihre Dolmetscherin verstehen konnte, da diese aus einem anderen Land als die Frau kam und nicht viel sagte. Außerdem bleiben die Details ihres Beschäftigungsverhältnisses ungeklärt. Wir wissen also nicht, ob der Frau derzeit überhaupt ein Einkommen zur Verfügung steht. Ihr Anwalt wirkte während der Verhandlung weitgehend passiv und schien keine Argumente vorzubringen oder Fragen aufzuwerfen.

Um die strukturellen Aspekte dieses Falles zu verstehen, müssen wir einige Hintergrundinformationen berücksichtigen. Die Frau stammt aus einem Land, das von Deutschland kürzlich als „sicheres Herkunftsland“ eingestuft wurde – eine Einstufung, die weithin kritisiert wird. Das bedeutet, dass die Frau, falls sie einen Asylantrag gestellt hat (was in diesem Fall nicht klar ist), sehr wahrscheinlich keine Arbeitserlaubnis mehr haben würde. Entweder wurde sie somit um ihre Arbeitserlaubnis gebracht, oder sie ist weiterhin als Saisonarbeiterin in einem prekären Arbeits-Sektor beschäftigt, der dafür berüchtigt ist, unterbezahlte Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuwerben. So oder so ist das Leben der Frau in Deutschland von rassistischen Strukturen geprägt – sei es durch Über-Ausbeutung oder durch Ausgrenzung –, die es ihr nahezu unmöglich machen, ihren Lebensunterhalt auf legalem Wege zu sichern.

Vor Gericht bieten sich selten genauere Einblicke in Lebensumstände dieser Art, die ein Licht auf strukturelle Ungleichheit werfen. Würde das Gericht genauer hinschauen, müsste es sich womöglich mit der Sinnlosigkeit und Ungerechtigkeit der Bestrafung auseinandersetzen. In diesem Fall erfährt das Gericht von dem prekären Beschäftigungsverhältnis der Frau, das den Hintergrund für den ihr vorgeworfenen Diebstahl bildet. Das ändert jedoch nichts an der Entscheidung des Gerichts. Am Ende bestraft der Richter die Frau trotzdem schwer.

Bericht

Die Prozessbeobachtung beginnt mit einem Vorgespräch, bei dem die Richterin und der Verteidiger zusammen durch die Akten gehen, um sich darauf zu einigen, alle Anklagepunkte an diesem Tag zu verhandeln. Währenddessen scherzen sie miteinander. Bevor die Frau den Saal betritt, unterhält sich die Richterin noch mit dem Anwalt über die finanzielle Situation seiner Mandantin. Der Anwalt gibt an, dass seine Mandantin nicht mehr arbeitet.

Dann kommt eine junge Frau herein, die in diesem Prozess die Angeklagte ist. Sie erzählt (entgegen der Behauptung ihres Anwalts), dass sie zurzeit einen Mindestlohn-Job ausübt und dass ihr die Vergehen leid tun. Sie arbeite nun und werde nicht wieder straffällig. Ihr Anwalt hat nicht viel zu ihrer Verteidigung beizutragen und stimmt der vom Staatsanwalt vorgeschlagenen Strafe von drei Jahren Bewährung, die bei Verstoß gegen die Bewährungsauflagen in eine neunmonatige Haftstrafe umgewandelt werden kann, zu. Die Richterin nimmt den Vorschlag an und begründet die hohe Strafe damit, dass der Wert der entwendeten Waren hoch sei, obwohl das Geständnis der Frau einen mildernden Faktor darstelle.

Fälle aus unserem Archiv

Fall 28

Eine Frau wurde per Strafbefehl zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die ihr gerichtlich zugeteilte Pflichtverteidigung legte dagegen Einspruch ein. Bei der Verhandlung ist weder die Verteidigung noch eine angemessene Dolmetschung anwesend. Da die Frau zum Tatzeitpunkt eine in Deutschland verbotene Waffe bei sich trug, drängt die Richterin sie dazu, den Einspruch zurückzunehmen, da sie aus ihrer Sicht bereits eine milde Strafe erhalten habe. Sie urteilt hart über sie, weil sie mit „den falschen Leuten“ zu tun habe, und fordert sie auf, ihrem Kind ein besseres Beispiel zu geben.

Messer-Panik
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 27

Ein Mann, der wegen versuchter Körperverletzung mit einer Waffe verurteilt wurde, legt Berufung gegen sein Urteil ein. Die Verhandlung erfolgt unmittelbar nach einer Welle populistischer Stimmungsmache aufgrund eines Messerangriffs. Während der Verhandlung herrscht ein feindseliges, im Zuge der Messerpanik aufgeheiztes, Klima: Die Verteidigung wird daran gehindert, Zeug*innen zu befragen, während die Richterin und die Staatsanwältin darauf erpicht sind, den Angeklagten in Untersuchungshaft zu behalten, was auch seine Abschiebung erleichtern würde. Obwohl das Berufungsverfahren mangelnde Beweise offenlegt, besteht das Gericht auf eine hohe Haftstrafe. Der Angeklagte wird nach der zweiten Anhörung und zwölf Monaten in Untersuchungshaft freigelassen, da er seine Strafe bereits verbüßt hat.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Haftstrafe
Körperverletzung

Fall 26

Ein junger Mann steht wegen Diebstahls vor Gericht. Während der Verhandlung erfährt er, dass seine Strafe hoch ausfallen wird, weil er ein Messer bei sich hatte, obwohl es laut Beweislage nicht während der Tat verwendet wurde. Die Richterin droht dem Angeklagten mit einer Haftstrafe. Ohne anwaltlichen Rat bleibt ihm offenbar wenig übrig, als die harte Strafe zu akzeptieren und sich die Unterstellungen der Richterin gefallen zu lassen, dass er gewerbsmäßig stiehlt – genau wie die nicht näher spezifizierten „anderen“, auf die sich die Richterin bezieht.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 25

Ohne eine anwesende angeklagte Person oder anwaltliche Vertretung erlässt das Gericht einen Strafbefehl, um eine Person per Post zu verurteilen. Die Staatsanwaltschaft drängt auf eine harte Strafe und darauf, den Tatbestand „Diebstahl mit Waffen“ beizubehalten, obwohl es wenige Beweise gibt und weder die angeklagte Person noch Zeug*innen befragt werden. Obwohl die Richterin mit der ursprünglichen Empfehlung der Staatsanwaltschaft für eine Haftstrafe nicht einverstanden ist, verhängt sie eine hohe Geldstrafe von mehr als 1.300 Euro für den Diebstahl von Lebensmitteln.

Messer-Panik
Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Diebstahl

Perspektiven