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Zusammenfassung

Ein Mann wird monatelang in U-Haft gehalten und für den Verkauf von Cannabis zu einer Geldstrafe von mehreren tausend Euro verurteilt. Obwohl zum Zeitpunkt der Verhandlung Cannabiskonsum und zum Teil auch -besitz und -handel kurz vor der Legalisierung bzw. Entkriminalisierung stehen, verurteilt das Gericht das Vorgehen des Angeklagten scharf. Der Staatsanwalt bezeichnet dieses als „extrem verwerflich“.

Kommentar

Von Untersuchungshaft sind nicht-deutsche Staatsangehörige nachweislich besonders betroffen. Das liegt daran, dass Gerichte bei Menschen mit Wohnsitz außerhalb Deutschlands routinemäßig von einer „Fluchtgefahr“ ausgehen – obwohl dies laut Gesetz keinen ausreichenden Grund darstellt.

Auch in diesem Fall ist die Erfahrung der beschuldigten Person mit dem Strafsystem stark durch seine Herkunft geprägt. Zum einen ist er von der unverhältnismäßigen Anordnung von U-Haft gegen nicht-deutsche Staatsangehörige betroffen. Zum anderen führt auch der Staatsanwalt die Herkunft des Beschuldigten als Grund an, weswegen dessen Verhalten besonders zu verurteilen sei.

In dieser moralisierenden Sichtweise geraten strukturelle Hintergründe aus dem Blick. Der Verteidiger weist an einer Stelle zwar darauf hin, dass es „wahrscheinlich nicht der Lebenstraum des Angeklagten“ gewesen ist, „nach Deutschland zu kommen, um mit Drogen zu handeln“. Damit deutet er auf die ungleiche Verteilung von Wohlstand hin, die Menschen aus anderen Ländern teilweise dazu bewegen, wirtschaftliche Möglichkeiten in Deutschland zu suchen – auch wenn diese innerhalb des Landes ebenfalls ungleich verteilt sind. Auf die sozioökonomischen Umstände, auf die er damit flüchtig hinweist, wird im Folgenden jedoch nicht weiter eingegangen.

Bericht

Wir erfahren zunächst, dass der Angeklagte im EU-Ausland lebt. Er spricht kein deutsch und hat einen Dolmetscher sowie einen Verteidiger. Der Mann gibt an, als Taxifahrer einige hundert Euro im Monat zu verdienen. Zu Beginn des Prozesses gesteht der Mann die Vorwürfe gegen ihn (Handel mit Betäubungsmitteln) durch eine von seinem Anwalt verlesene Erklärung. Im Taxi des Mannes fand die Polizei einige Gramm Cannabis mit geringem THC-Gehalt, sodass die Schwelle eines geringfügigen Vergehens nicht überschritten ist. Im Verlauf der Verhandlung äußern sich sowohl der Richter als auch der Staatsanwalt herablassend und moralisierend über den Angeklagten, der zu Verhandlungsbeginn auch schon mehrere Monate in Untersuchungshaft verbringen musste.

Der Anwalt des Mannes weist die Bemerkung des Staatsanwalts zwar zurück, gibt sich ansonsten aber keine große Mühe bei der Verteidigung. In seinem Plädoyer macht er keine Anstalten, sich für einen Freispruch oder eine niedrige Strafe auszusprechen, sondern fordert lediglich eine Geldstrafe in einer Höhe, die das Gericht für angemessen hält. Der Richter verurteilt den Angeklagten zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 15 €. Auf 30 Tage hochgerechnet entspricht dieser Tagessatz dem gesamten monatlichen Einkommen des Mannes. In seiner Begründung unterstreicht der Richter noch einmal seine moralische Verurteilung des Vorgehens des Angeklagten.

Fälle aus unserem Archiv

Fall 28

Eine Frau wurde per Strafbefehl zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die ihr gerichtlich zugeteilte Pflichtverteidigung legte dagegen Einspruch ein. Bei der Verhandlung ist weder die Verteidigung noch eine angemessene Dolmetschung anwesend. Da die Frau zum Tatzeitpunkt eine in Deutschland verbotene Waffe bei sich trug, drängt die Richterin sie dazu, den Einspruch zurückzunehmen, da sie aus ihrer Sicht bereits eine milde Strafe erhalten habe. Sie urteilt hart über sie, weil sie mit „den falschen Leuten“ zu tun habe, und fordert sie auf, ihrem Kind ein besseres Beispiel zu geben.

Messer-Panik
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 27

Ein Mann, der wegen versuchter Körperverletzung mit einer Waffe verurteilt wurde, legt Berufung gegen sein Urteil ein. Die Verhandlung erfolgt unmittelbar nach einer Welle populistischer Stimmungsmache aufgrund eines Messerangriffs. Während der Verhandlung herrscht ein feindseliges, im Zuge der Messerpanik aufgeheiztes, Klima: Die Verteidigung wird daran gehindert, Zeug*innen zu befragen, während die Richterin und die Staatsanwältin darauf erpicht sind, den Angeklagten in Untersuchungshaft zu behalten, was auch seine Abschiebung erleichtern würde. Obwohl das Berufungsverfahren mangelnde Beweise offenlegt, besteht das Gericht auf eine hohe Haftstrafe. Der Angeklagte wird nach der zweiten Anhörung und zwölf Monaten in Untersuchungshaft freigelassen, da er seine Strafe bereits verbüßt hat.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Haftstrafe
Körperverletzung

Fall 26

Ein junger Mann steht wegen Diebstahls vor Gericht. Während der Verhandlung erfährt er, dass seine Strafe hoch ausfallen wird, weil er ein Messer bei sich hatte, obwohl es laut Beweislage nicht während der Tat verwendet wurde. Die Richterin droht dem Angeklagten mit einer Haftstrafe. Ohne anwaltlichen Rat bleibt ihm offenbar wenig übrig, als die harte Strafe zu akzeptieren und sich die Unterstellungen der Richterin gefallen zu lassen, dass er gewerbsmäßig stiehlt – genau wie die nicht näher spezifizierten „anderen“, auf die sich die Richterin bezieht.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 25

Ohne eine anwesende angeklagte Person oder anwaltliche Vertretung erlässt das Gericht einen Strafbefehl, um eine Person per Post zu verurteilen. Die Staatsanwaltschaft drängt auf eine harte Strafe und darauf, den Tatbestand „Diebstahl mit Waffen“ beizubehalten, obwohl es wenige Beweise gibt und weder die angeklagte Person noch Zeug*innen befragt werden. Obwohl die Richterin mit der ursprünglichen Empfehlung der Staatsanwaltschaft für eine Haftstrafe nicht einverstanden ist, verhängt sie eine hohe Geldstrafe von mehr als 1.300 Euro für den Diebstahl von Lebensmitteln.

Messer-Panik
Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Diebstahl

Perspektiven