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Zusammenfassung

Ein Mann legt Einspruch gegen ein Bußgeld ein, das ihm auferlegt wurde, da zwei Polizisten ihn dabei beobachtet haben wollen, wie er beim Autofahren ein Telefon in der Hand hielt. Es scheint, als ob sich die Polizisten nicht an den spezifischen Vorfall erinnern. Dennoch sieht die Richterin den Vorfall als gegeben an, sodass der Verteidiger den Einspruch zurücknimmt. Dem Angeklagten entstehen zusätzlich zur Geldstrafe von 100 € in Folge des Einspruchs weitere Kosten von ca. 300 €.

Kommentar

Dieser Fall gibt mehrere Einblicke in die Logiken des Polizierens. Zum einen zeigt sich in den Zeugenaussagen der Polizisten, wie ein Zirkelschluss die Praxis stützt, einen migrantisierten Ort verstärkten Polizeikontrollen auszusetzen: Mehr Verkehrskontrollen fördern mehr Verstöße zu Tage, auf die wiederum mit mehr Kontrollen reagiert wird (Kriminolog*innen sprechen hierbei vom Lüchow-Dannenberg-Syndrom).

Zum anderen wird eine fragwürdige Haltung der Polizeizeugen zum Rechtsstaatprinzip deutlich. Statt Einspüche als fundamentalen Teil rechtlicher Verfahren zu erkennen, würden diese mühsame Polizeiarbeit zunichtemachen, wenn sich Polizeizeug*innen nicht mehr an konkrete Vorfälle erinnerten und dadurch Verfahren eingestellt würden. Diese Sichtweise äußert sich in der Frustration des Polizeizeugens, der mehrfach betont, wie schwierig es sei, sich an einzelne Fälle zu erinnern, und andeutet, dass die Anforderungen an gerichtliche Zeugenaussagen Polizist*innen zwecks „Ermittlungserfolgs“ dazu verleiten könnten, auszusagen, als würden sie sich an das konkrete Ereignis erinnern, auch wenn dies nicht der Fall ist. Diese Aussage zeigt, dass er nicht hinter den Werten und Grundsätzen eines Systems steht, für dessen Durchsetzung er verantwortlich ist. Die Tatsache, dass die Richter*in die „Ehrlichkeit“ der Polizeizeugen für erwähnenswert hält, zeigt auch, dass eine solche Ehrlichkeit bei polizeilichen Aussagen nicht einfach vorausgesetzt werden kann.

Bericht

Ein junger Mann, der vor Gericht durch einen Anwalt vertreten wird, legt Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid von 100 € ein. Als Zeugen treten die beiden Polizisten auf, die angeben, die Nutzung eines Telefons beobachtet zu haben. Beide schildern, dass die Polizei oft Verkehrskontrollen in diesem bestimmten Gebiet durchführen, weil sie hier häufig Verkehrsverstöße feststelle (sog. „kriminalitätsbelasteter Ort“). Der erste Polizeizeuge berichtet detailliert, wie sie beobachten konnten, dass der junge Mann das Telefon auf Brusthöhe hielt, während er fuhr. Dennoch erklärt er anschließend, dass er sich nicht mehr wirklich an den Vorfall erinnern kann, woraufhin die Richterin ihn auf die Widersprüchlichkeit dieser Aussagen hinweist. Der Anwalt fragt, ob es sich nur um ein einmaliges Antippen des Telefons gehandelt habe, was der Zeuge bestätigt. Er fügt hinzu, dass er Mundbewegungen gesehen habe, was bedeutet, dass wahrscheinlich eine Sprachnachricht aufgenommen wurde. Der zweite Polizeizeuge erklärt ebenfalls, dass er sich nicht an alles erinnern könne, da der Vorfall bereits mehr als ein Jahr zurückliegt und sie sehr regelmäßig Kontrollen durchführen. Dennoch gibt auch er eine detaillierte Beschreibung dessen, was angeblich passiert sei, zu Protokoll. Der Verdacht liegt nahe, dass sich die zwei Polizisten nicht nur auf ihre Erinnerungen stützen, sondern vor der Verhandlung ihren Polizeibericht nochmal durchgelesen haben. Dies versucht der Verteidiger durch verschiedene Fragen offenzulegen, um die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen zu hinterfragen.

Dennoch erklärt die Richterin, die Aussagen seien für sie ausreichend, um einen Verstoß gegen die Verkehrsordnung festzustellen. Sie dankt den Polizeizeugen anerkennend für ihre Ehrlichkeit darüber, dass sie sich nicht genau an den Vorfall erinnern können. Nachdem sie die Zeugenaussagen gehört habe, sähe sie die Sache als erwiesen an und würde einer Verringerung der Geldstrafe nicht zustimmen. Der Anwalt zieht den Einspruch zurück und die Verhandlung ist abgeschlossen. Später erklärt er den Prozessbeobachter*innen, dass auf den Angeklagten aufgrund des abgelehnten Einspruchs noch über 300 € Kosten (Gerichts- und Verwaltungskosten, Anwaltskosten und Zeugenentschädigung) zusätzlich zu der 100 € Strafe zukommen.

Im Anschluss an die Verhandlung fragt einer der Polizisten die Richterin, wie denn sichergestellt werden könne, dass ihre Arbeit auch „Erfolg“ habe, wenn jeder einfach Einspruch einlegen und einen Fall zu Gericht bringen könne. Er äußert Frustration und wirft die Frage auf, wie er und seine Kolleg*innen ihre Aussagen gestalten können, sodass Angeklagte auch bestraft würden. Er fragt auch mehrfach, wie von Polizist*innen erwartet werden könne, sich an genaue Vorfäll zu erinnern, wenn diese so lange zurückliegen und jede Woche Verkehrskontrollen durchgeführt würden. Er legt nahe, dass dies zum Lügen anregen würde. Die Richterin sagt, sie verstünde die Frustration, aber dass die Polizei ehrlich sein müsse. Sie erklärt, dass sie sicher gehen will, dass die Polizeizeugen sich an den konkreten Vorfall erinnern, und nicht nur wiederholen, was im Polizeibericht steht, wobei dies für andere Kollegen ausreichend sein könne.

Fälle aus unserem Archiv

Fall 28

Eine Frau wurde per Strafbefehl zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die ihr gerichtlich zugeteilte Pflichtverteidigung legte dagegen Einspruch ein. Bei der Verhandlung ist weder die Verteidigung noch eine angemessene Dolmetschung anwesend. Da die Frau zum Tatzeitpunkt eine in Deutschland verbotene Waffe bei sich trug, drängt die Richterin sie dazu, den Einspruch zurückzunehmen, da sie aus ihrer Sicht bereits eine milde Strafe erhalten habe. Sie urteilt hart über sie, weil sie mit „den falschen Leuten“ zu tun habe, und fordert sie auf, ihrem Kind ein besseres Beispiel zu geben.

Messer-Panik
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 27

Ein Mann, der wegen versuchter Körperverletzung mit einer Waffe verurteilt wurde, legt Berufung gegen sein Urteil ein. Die Verhandlung erfolgt unmittelbar nach einer Welle populistischer Stimmungsmache aufgrund eines Messerangriffs. Während der Verhandlung herrscht ein feindseliges, im Zuge der Messerpanik aufgeheiztes, Klima: Die Verteidigung wird daran gehindert, Zeug*innen zu befragen, während die Richterin und die Staatsanwältin darauf erpicht sind, den Angeklagten in Untersuchungshaft zu behalten, was auch seine Abschiebung erleichtern würde. Obwohl das Berufungsverfahren mangelnde Beweise offenlegt, besteht das Gericht auf eine hohe Haftstrafe. Der Angeklagte wird nach der zweiten Anhörung und zwölf Monaten in Untersuchungshaft freigelassen, da er seine Strafe bereits verbüßt hat.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Haftstrafe
Körperverletzung

Fall 26

Ein junger Mann steht wegen Diebstahls vor Gericht. Während der Verhandlung erfährt er, dass seine Strafe hoch ausfallen wird, weil er ein Messer bei sich hatte, obwohl es laut Beweislage nicht während der Tat verwendet wurde. Die Richterin droht dem Angeklagten mit einer Haftstrafe. Ohne anwaltlichen Rat bleibt ihm offenbar wenig übrig, als die harte Strafe zu akzeptieren und sich die Unterstellungen der Richterin gefallen zu lassen, dass er gewerbsmäßig stiehlt – genau wie die nicht näher spezifizierten „anderen“, auf die sich die Richterin bezieht.

Messer-Panik
Strafe als Grenzmechanismus
Bewährungsstrafe
Diebstahl

Fall 25

Ohne eine anwesende angeklagte Person oder anwaltliche Vertretung erlässt das Gericht einen Strafbefehl, um eine Person per Post zu verurteilen. Die Staatsanwaltschaft drängt auf eine harte Strafe und darauf, den Tatbestand „Diebstahl mit Waffen“ beizubehalten, obwohl es wenige Beweise gibt und weder die angeklagte Person noch Zeug*innen befragt werden. Obwohl die Richterin mit der ursprünglichen Empfehlung der Staatsanwaltschaft für eine Haftstrafe nicht einverstanden ist, verhängt sie eine hohe Geldstrafe von mehr als 1.300 Euro für den Diebstahl von Lebensmitteln.

Messer-Panik
Kriminalisierung von Armut
Geldstrafe
Diebstahl

Perspektiven

Collage of: politicians holding report, police, and an arrow/graph.

Die polizeiliche Kriminalstatistik ist als Instrument zur Bewertung der Sicherheitslage ungeeignet

Justice Collective, Grundrechtekomitee und 40 weitere

Wissenschaftler*innen und Mitglieder der Zivilgesellschaft warnen vor der politisierten Nutzung der polizeilichen Kriminalitätsstatistik, die jedes Jahr dafür genutzt wird, falsche Narrative über steigende Kriminalität und vermeintlich „kriminelle Migrant*innen“ zu verbreiten. Die Unterzeichnenden stellen das durch das BKA und die Medien gezeichnete statistische Bild entschieden in Frage und betonen, dass die PKS zur Polarisierung der Gesellschaft und Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen beiträgt.

Rassistisches Polizieren
Picture of Berlin criminal court.

Rassimus vor Gericht dokumentieren: Interview mit Justizwatch

Justizwatch

Ein Interview mit Justizwatch über ihre Arbeit zur Dokumentation von Rassismus vor Gericht in Berlin.

Rassistisches Polizieren
image Solidarity is a Weapon, KOP

Solidarische Interventionen in rassistische Gewaltsysteme: Polizieren, Strafjustiz und (Massen-) Kriminalisierung

Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP)

Die Verschärfung staatlicher Repression, Marginalisierung und Militarisierung führt gegenwärtig zu einer Zunahme der Polizeigewalt, zu einer steigenden Zahl von Verhaftungen wegen Armutsdelikten und zur brutalen (strafrechtlichen) Disziplinierung „innerer Feinde“. In dieser Situation erscheint es dringend notwendig, darüber nachzudenken, wie wir den Kampf gegen rassistische Polizeigewalt und staatlichen Rassismus enger mit anderen Kämpfen verknüpfen können, um Entmenschlichung, Ausbeutung und weit verbreitete staatliche Gewalt endlich abzuschaffen.

Rassistisches Polizieren